Die Wand der Zeit
beruhigt. Das Zittern kann ich nicht abstellen.
Am Morgen gehe ich wieder hin.
Ich gehe in die Hocke und fahre mit den Fingern durch den Schlamm. Stundenlang hocke ich da. Mir schlafen die Beineein. Ich schwanke hin und her. Rede leise mit mir selbst. Warte. Ich denke nach und warte.
Gegen Abend stehe ich etwas zu schnell auf. Da ich kein Gefühl in den Beinen habe, stürze ich, rapple mich aber hoch und stolpere ins Wasser hinein. Eine dünne Eisschicht bedeckt die Oberfläche. Ich ziehe scharf die Luft ein. Greife ins Wasser. Es geht mir bis zur Taille. Ich greife hinein und taste herum, da steht mein Fuß plötzlich auf seinem Arm, und ich hole Atem und tauche. Ich öffne die Augen, kann aber nichts sehen. Ich schiebe einen Arm unter seinen Rücken, den anderen unter seine Beine und hebe ihn aus dem Wasser. Dabei schnappe ich gewaltig nach Luft. Ich hebe ihn aus dem Schlamm und höre, wie das Wasser von ihm und aus ihm herausströmt, wie es Laub, Zweige und Wasser aus seinem Mund regnet. Sehen kann ich nichts. Ich habe Schlamm in den Augen. Ich blinzle ein paarmal, und die Welt ist wieder da, ein stumpfer, verschwommener Anblick. Ob sie vom Regen oder vom Wasser, das ich noch in den Augen habe, so verschwommen aussieht, weiß ich nicht, aber der Anblick versetzt mich in Panik, eine nie da gewesene Angst. Ich schlinge die Arme um mich, schlucke Schlamm, friere, und ein Stöhnen entringt sich meiner Brust. Ich atme schwer. Ich blicke auf den Mann, den Geist, die Leiche herab. Augenhöhlen schauen mich an, das braune Kinn, die Haarsträhnen, die aus dem Mund hängenden Zweigstücke. Ich richte den Blick wieder auf die Insel, und das Grau ist überall, Dämmerung, Regen, Gras, Eis. Noch nie war mir so kalt.
Ich bringe ihn in die Höhle. Dort lege ich ihn aufs Stroh. Mit der Axt und einem Stein mache ich mich daran, ein paar von meinen Ästen zu säubern und zuzuspitzen. Den dicksten ramme ich gut einen halben Meter tief in die Erde. Mit anderen Ästen stütze ich ihn ab. Als die Morgendämmerung naht,hebe ich den Mann auf das Gestell und binde ihn daran fest: Arme, Oberkörper, Hals und Füße. Ich drehe ihn mit dem Gesicht zur See. Ich schaue ihm ins Gesicht. Die Augen sind geschlossen. Er sieht friedlich aus. Rache liegt ihm fern. Das soll sehen, wer jemals diese Insel ansteuert. Wenn mein Volk dereinst nachsehen kommt, was aus mir geworden ist, wenn sie kommen, um mich heimzuholen, dann sollen sie wissen, dass ich bis zuletzt an sie gedacht habe. Sie sollen wissen, dass ich es für sie getan habe und dass keine Liebe größer ist als die eines Menschen, der bereit ist, sich für sein Volk zu opfern. Und ich habe es besonders für einen Menschen getan, für eine Frau, die mich nicht so liebte wie ich sie. Aber das war gut so. Sie gab mir alles, was ich jemals wollte.
Unten vor das Gestell lege ich den Puppenmann, den ich die ganze Zeit aufbewahrt habe, das Spielzeug für Amhara.
Die Angst ist verflogen. Der neue Tag bricht an. Meine Welt geht zu Ende, kommt früher zum Stillstand, als ich berechnet habe. Diesen Irrtum kann ich mir nachsehen.
Bald werde ich im Wasser versinken, meine Augen, meinen Mund dem Schlick öffnen. So werde ich zum neuen Inselmenschen. Jahre, Jahrhunderte werde ich warten, bis auch mein Leichnam gefunden wird. Dann wird man Geschichten über mich erzählen. Vielleicht gehen sie gut aus. Dann lebe ich noch einmal. Oder auch nur ein Abbild, ein Schatten von mir. Eine Geschichte.
Vor der Höhle schaukelt der Leichnam im Wind. Ein Fremder, der von meinen Fischgründen den Steiluferweg heraufkommt, könnte ihn sogar für lebendig halten.
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D ANKSAGUNG
Danke an Andrew McIntosh für viele Unterhaltungen über das Manuskript, für sein Verständnis und seine Ermutigung. Großen Dank an meine Eltern und Brüder für Unterstützung und das Lesen früher Fassungen und an Dan Hopkin für seinen Rat. Sue Armstrong trug wesentlich zur Verbesserung des Manuskripts nach der ersten Fassung bei, wofür ich ebenso dankbar bin wie für den Beistand vieler Freunde und Verwandter. Dank an die Verlage Umuzi und Clerkenwell Press, die sich für den Roman begeistert haben, und an Karina Magdalena Szczurek und André Brink für ihre großzügige Unterstützung. Besonderen Dank schließlich meiner Frau Tabatha, die hier wie bei so vielem anderen meine größte Hilfe war.
© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2012
© der Originalausgabe: 2010 Alastair
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