Die Wand der Zeit
stürmen und die Insassen zu töten. Wir hatten keine Möglichkeit, uns um Gefangene zu kümmern. Flüchtlinge konnten auf unsere Milde zählen, aber nicht der Feind. Ich drang durch die Haustür ein, andere durch die Fenster oder Löcher in den Mauern. Der Feind hatte keine Chance. Drei Schüsse konnte er abgeben. Drei Schüsse von sieben Mann. Einer war zu verängstigt, um zu schießen. Er stand mit dem Gewehr in der Hand in der Ecke und zuckte unter denSchüssen zusammen. Außer mir schien ihn niemand zu bemerken. Ich behielt ihn während des nur Sekunden dauernden Schusswechsels im Auge. Als die anderen tot waren, befahl ich, das Feuer einzustellen. Ich ging zu dem Soldaten. Es war noch ein Junge. Er weinte nicht. Aus Angst vor einem Schlag hatte er den Körper leicht von mir weggedreht. Mit den Augen fixierte er mein Kinn. Meine Pistole war auf ihn gerichtet. Ich bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, sich umzudrehen. Sein Atem verlangsamte sich, und er nickte. Er verstand. Das hat sich mir eingeprägt, und ich habe es noch oft vor mir gesehen. Ich befahl ihm, sich hinzuknien. Die Pistole noch an seinem Kopf, griff ich nach seinem Gürtel. Ich nahm ihm sein Messer ab. Wir durften keine Patronen verschwenden. Nach Möglichkeit mussten wir anders töten. Ich steckte die Pistole ins Halfter und umfasste mit der linken Hand seine Stirn. Mit der rechten zog ich ihm das Messer über die Kehle. Es ging schnell, aber ich spürte jede Sehne, jeden durchtrennten Muskel. Er gab keinen Laut von sich. Ich ließ ihn los, und er fiel zu Boden. Vielleicht war auch alles ein wenig anders, aber an das Nicken erinnere ich mich. Den Augenblick, als sich die Furcht in Hinnahme verwandelte. Das Messer habe ich behalten. Noch ein Menschenleben später habe ich es.
Das war zu Beginn der Kriege, die sich noch elf Jahre hinziehen sollten. Am Ende unterstand mir das ganze Heer: eintausend Mann.
Die Kriege endeten mehr oder weniger von selbst. Wir brachten einander um und starben, bis unsere jeweilige Bevölkerung so weit geschrumpft war, dass uns das Land wieder alle ernähren konnte. Wir handelten einen Frieden aus, dessen Bedingungen sich auf Dauer einhalten ließen. Ich sage »wir«; die Verhandlungen führte ich, zusammen mit meinem Widerpartvon der anderen Seite. Es war ein angespannter Frieden, nicht ohne Traurigkeit, nicht ohne Konsequenzen, aber dennoch Frieden. Er hielt bis zu meinem Fortgang an und besteht wahrscheinlich immer noch.
Ich erinnere mich, wie ich von Bran Abschied nahm. Ein paar Leute hatten die Soldaten und mich zur Küste begleitet. Es waren Regierungsbeamte, der Richter, meine Nachbarn und natürlich der neue Marschall, mein Nachfolger und Schützling Abel. Meine Geliebte war auch da, wenngleich ich sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr so nennen konnte.
Der Marschall konnte mir nicht in die Augen sehen. Er sah mir über die Schulter. Seine Lippen waren ein Strich. Ich weiß noch, wie sich seine Hand bei unserem kurzen Händedruck anfühlte. Weich und kraftlos. Das galt sicher auch für meine. Das Leben eines Marschalls in unserem Vorposten war nicht gerade körperlich anstrengend. Früher waren wir Kämpfer gewesen. Der Frieden hatte uns weich werden lassen. Er gab uns mehr Zeit zur Besinnung, mehr Zeit, über unser Tun nachzudenken.
Ich sehe die Leute auf der Hauptinsel vor mir, die ich zurückgelassen habe. Sie stehen am felsigen Strand, schauen aufs Meer hinaus, die Wellen schwappen ihnen um die Füße. Ich frage mich, was in ihnen vorgeht. Frage mich, ob wir, wenn wir so weit schauen könnten, einander zuwinken oder uns nur stumm anstarren würden. Aber so weit kann niemand schauen. Ich war drei Wochen mit dem Floß unterwegs, bevor ich hier landete.
Viele meiner Mitmenschen sind mir nicht mehr präsent. Sie tauchen in meinen Erinnerungen auf, doch ihre Gestalten sind verschwommen, verblassende Bilder, Gespenster. Sie reden, sie gestikulieren, doch ich kann ihre Augen nicht sehen.
An die Frau erinnere ich mich aber. Sie war nicht besonders schön. Sie war fünfunddreißig, als ich fortging, sah aber älter aus. Wie wir alle, glaube ich. Lebenslange Küchenarbeit, Abspülen, zwölf Stunden Stehen am Tag, hatte sie altern lassen. Ihre Hände waren schwielig, ihre Haut stumpf. Aber wenn sie einen ansah, ging ihr Blick durch und durch. Nichts blieb ihr verborgen. Wenn uns jemand wirklich kennt, sind wir ganz wir, was immer der andere auch weiß, und sei es die finsterste Wahrheit.
Wir kannten uns seit zwölf
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