Die Wand der Zeit
Jahren. Wir verbrachten die Mittwochabende zusammen, da hatte sie frei. Sonst hatten wir kaum die Möglichkeit, uns zu sehen. Ich arbeitete tagsüber, sie bis in den späten Abend. All die Jahre haben wir den Mittwoch nur zwei Mal ausgelassen. Das erste Mal war es meine Schuld, auch wenn ich wenig daran ändern konnte. Ich arbeitete auf einer Friedenskonferenz mit dem Oberhaupt von Axum – da waren lauter Männer mit solchen Jacken – die Einzelheiten des künftigen Großen Plans aus. Das zweite Mal lag es am Tod ihrer Mutter. Sie sagte, sie müsse eine Zeit lang allein sein. Ich nahm an, ich würde sie nicht wiedersehen. Ich dachte, nach dem, was ich getan hatte, sei das ausgeschlossen. Aber am Mittwoch darauf klopfte es um sieben – unsere Zeit – an die Tür, und sie war’s. Ich merkte, dass sie traurig und distanziert war, aber mir hüpfte das Herz bei diesem Wiedersehen. Das konnte ich ihr nicht sagen. Unmöglich. Wie denn auch? Sie stand vor mir und meinte lediglich, ohne mich anzusehen: »Wir sprechen nicht über sie.« Ich nickte, und wir hielten uns daran.
Die Frau hieß Tora. Sie hatte eine Wohnung in der Nähe der Gemeindeküche. Eine einfach möblierte, stets saubere kleine Wohnung ohne Firlefanz. In ihrem Schlafzimmer standen ein Bett, ein dunkler Kleiderschrank aus Holz und eine Frisierkommode.Ich weiß nicht, ob sie die Wohnung extra für mich aufräumte oder sie immer sauber hielt. Das werde ich wohl nie erfahren.
Im dritten Jahr unserer Beziehung bat ich sie, zu mir zu ziehen, damit es amtlich wäre. Sie lehnte ab. Ich begriff zunächst nicht, warum. Sie sagte, es sei unnötig. Noch mal habe ich sie nicht gefragt, und schließlich habe ich begriffen, wie sie das meinte. Wir hatten alles, was wir brauchten, und alles, was wir wollten. Mehr hätte das Ganze zum Kippen gebracht. Sie war eine sehr vernünftige Frau, eine Eigenschaft, die ich bewunderte. Sie hielt mich immer etwas auf Distanz, aber vielleicht waren in den Nöten unserer Zeit nur wenige Menschen tiefer Gefühle fähig.
Wenn wir zusammen im Bett waren, schloss sie immer die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Beim letzten Mal schloss ich sie auch, da ich es nicht ertragen konnte, sie anzusehen, überhaupt etwas zu sehen. Eine Kluft war zwischen uns.
Ich wusste nicht genau, ob das unser letztes Zusammensein war, aber der Prozess lief nicht gut, und ich nahm an, er würde schlecht für mich ausgehen. Er endete dann nicht mit einem Todesurteil, sondern schlimmer. Verbannung auf Lebenszeit, ein Tod im Leben. Ein Leben im Tod.
Und sie gehörte damals schon nicht mehr ganz zu mir.
Wahrscheinlich hatte ich es meiner Position zu verdanken, dass ich nicht hingerichtet wurde, vielleicht auch einem Gefühl der Mitschuld. Als ich in See stach, fasste ich die Leute ins Auge, um sie zu zwingen, mich anzusehen. Nur sehr wenige taten es. Ein kleiner Sieg für mich.
Meine Beziehung zu Tora wurde in der Stadt zwar nicht missbilligt, aber doch als unkonventionell betrachtet. Viele Probleme ergaben sich nicht daraus. Mein übriges Leben war konventionell.Ich kam meinen Pflichten gewissenhaft nach, hielt Kontakt zu meinem Stab, steckte an den Jahrestagen entscheidender Schlachten und des Friedensvertrags meine Orden an und traf mich zwölf Jahre lang zur gleichen Zeit am gleichen Ort mit derselben Frau. Ich hatte Routine.
Ich kultivierte die Unnahbarkeit, die man mir nachsagte. Bei der Rolle, die ich auszufüllen hatte, war das eine Notwendigkeit. Selbst als ich im Rahmen des Großen Plans, der großen Idee, für das Amt des Marschalls kandidierte und drei Viertel der Bevölkerung überreden konnte, für mich zu stimmen, wusste ich, dass sie nicht mich wählten, nicht meine Anhänger waren. Es ging ihnen um die Ordnung, die ich herstellen wollte, die Verheißung, das sinnlose Töten könnte ein Ende haben.
Ich war nie ein Mann des Volkes. Sogar Abel, den Menschen, mit dem ich am meisten zu tun hatte, hielt ich auf Abstand. Ich glaube allerdings, es war ihm ganz recht so. Er war selbst nicht gerade leutselig. Ich besuchte ihn ein paarmal privat, aber nicht oft. Ich machte ihn mit Tora bekannt. Wir kamen am Küchenhaus vorbei, und Tora saß draußen in der Sonne. Das war zu Beginn unserer Beziehung. Ich ging zu ihr und gab ihr einen Kuss. Ich gebe zu, ich wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte, da Abel zusah. Sie bog sich ein wenig von mir weg. Ich machte sie mit Abel bekannt, und wir gingen weiter.
Einmal hat er mich danach gefragt,
Weitere Kostenlose Bücher