Die Wanderapothekerin 1-6
die Hälfte seines Schatzes abgibt, ist jeder von uns reich.« Der Klang seiner eigenen Stimme ließ Alois zusammenzucken.
Er kannte seinen Bruder gut genug, um zu wissen, wie stur dieser sein konnte. Doch er brauchte das Gold dringend, und leider nicht nur, um seine Tochter gut zu verheiraten. Er hatte Schulden bei Händlern in Königsee und sogar in Rudolstadt, und diese bedrängten ihn hartnäckig, damit er zahlte. Um alle zufriedenzustellen, hätte er in diesem Jahr dreimal so viel verdienen müssen wie sonst, und das würde ihm auch bei sparsamster Lebensführung niemals gelingen.
»Morgen rede ich noch einmal mit Martin. Er muss nachgeben! Schließlich ist er mein Bruder und kann nicht wollen, dass ich im Schuldturm lande.« Erneut sprach er seine Gedanken laut aus und sah dabei angespannt auf Martins Lager.
Sein Bruder schlief jedoch fest. Das war kein Wunder, sagte Alois sich neiderfüllt, wurde der Jüngere doch nicht wie er immerzu von Sorgen geplagt.
2.
D er Morgen dämmerte herauf, ohne dass ein Bär, ein Räuber oder ein französischer Soldat sich hatte sehen lassen. Da Alois Schneidt lange wach geblieben war, schlief er noch, während sein Bruder aufstand, die an seiner Kleidung haftenden Blätter abstreifte und sich am Bach wusch. Martins Überlegungen galten zunächst seiner jährlichen Wanderung, deren Endpunkt er am nächsten Abend zu erreichen hoffte. Dann musste er an seine Familie denken, die er in spätestens drei Wochen wiedersehen würde. Vorher würden er und Alois ihre restlichen Arzneien auf dem Markt in Gernsbach anbieten. Danach konnten sein Bruder und er endlich nach Hause eilen.
Mit einem sanften Lächeln stellte Martin Schneidt sich vor, dass seine Frau Johanna um diese Zeit bereits am Herd stehen würde und die Morgensuppe kochte. Klara würde ihr helfen, wie sie es immer tat, Gerold die beiden Ziegen und das Schwein füttern und die kleine Liebgard die Hühner. Der neunjährige Albert war höchstwahrscheinlich wieder ausgebüxt, um den Arbeitern zuzusehen, die in die Kupferschmelze eilten. Martin Schneidt meinte alle fünf so deutlich vor sich zu sehen, dass er einen sehnsuchtsvollen Seufzer ausstieß. Dann blickte er zur Sonne hoch, die bereits eine Handbreit über dem Horizont stand, und weckte seinen Bruder.
»He, Alois! Aufstehen! Sonst geraten wir in die Nacht hinein und stehen vor den geschlossenen Toren von Gernsbach. Du willst doch heute noch in Bollands Gasthof einen Becher Wein trinken.«
Alois quälte sich hoch und kniff die Augen zusammen. Seine Gedanken waren noch von dem Traum gefangen, in dem er einen großen Tontopf voll glänzender Taler gefunden hatte. Nun war er enttäuscht, weil das Geld sich als Trugbild erwiesen hatte.
»Wir kommen schon noch an unser Ziel«, antwortete er missgelaunt. Da fiel ihm ein, dass er seinen Bruder nicht verärgern durfte, wenn er Erfolg bei ihm haben wollte. »Freilich will ich einen Becher Wein trinken und mit dir darauf anstoßen, dass wir auch heuer mit Gottes Hilfe unsere Strecke geschafft haben.«
»Darauf trinke ich gerne!«, erwiderte Martin fröhlich. »Nächstes Jahr sind wir übrigens zu dritt. Ich werde nämlich meinen Gerold mitnehmen. Der Bursche ist jetzt achtzehn und soll lernen, ein guter Wanderapotheker zu werden.«
»Dann wirst du noch mehr verdienen, denn zu zweit könnt ihr mehr tragen als ich allein«, warf sein Bruder neidisch ein.
»Du musst dir eben einen guten Mann für deine Reglind suchen, dann könnt ihr ebenfalls zu zweit losziehen. Das Handelsprivileg für einen Schwiegersohn wird dir Seine fürstliche Hoheit gewiss gewähren«, schlug Martin vor.
»Keiner von uns müsste weiterhin Jahr für Jahr durch Sommerhitze und Regen laufen, wenn du vernünftig wärst, Martin«, antwortete Alois drängend. »Wir könnten selbst Laboranten werden und andere als Wanderapotheker in die Welt hinausschicken. Das Gold, das du versteckt hältst, würde uns dazu verhelfen.«
»Was du dir einbildest!«, rief Martin mit einem freudlosen Lachen aus. »Als Erstes würde der Amtmann von Königsee fragen, woher wir das Geld haben, um uns als Laboranten einzurichten. Wenn wir zugeben, einen Schatz gehoben zu haben – und das müssten wir! –, würde der Fürst seinen Anteil verlangen, ebenso der Pfarrer und der Amtmann. Für uns beide bliebe nicht mehr viel übrig, und wir müssten trotzdem weiterhin als Wanderapotheker durch die Lande ziehen.«
»Nicht, wenn wir es geschickt anfangen«, wandte sein Bruder ein.
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