Die Wanderapothekerin 1-6
Vaters übernehmen, und falls seine Schwägerin bis dahin nicht auf sein Ansinnen eingegangen war, würde er unterwegs mit seinem Neffen reden. Sollte dieser auf seinen Vorschlag eingehen, war es gut. Wenn nicht …
Bei dem Gedanken blickte Alois Schneidt in die Richtung, in der er seinen toten Bruder wusste, und verzog das Gesicht zu einer drohenden Grimasse.
3.
A lois Schneidt war schon auf halbem Weg nach Gernsbach, als ihm einfiel, dass er um Gottes willen nicht aus der Richtung kommen durfte, in der sein Bruder umgebracht worden war. Daher schlug er sich an einer einsamen Stelle durch den Wald, um eine andere Straße zu erreichen. Das bedeutete jedoch, eine weitere Nacht im Freien verbringen zu müssen. Als er am Abend endlich einen passenden Lagerplatz gefunden hatte, wagte er es nicht, ein Feuer zu entzünden, sondern wusch das Salz des Pökelfleisches an einer Quelle ab und aß es roh. Es war seine erste Mahlzeit an diesem Tag, dennoch verspürte er kaum Hunger. Immer wieder sah er das entsetzte Gesicht seines Bruders vor sich und dessen letzten, anklagenden Blick.
»Martin ist selbst schuld! Er hätte nur nachgeben müssen«, rechtfertigte er sich. Trotzdem quälten ihn in der Nacht wirre Träume, in denen sein Bruder geisterbleich auftauchte und ihn Kain nannte.
Der aufsteigende Morgen vertrieb die Gewissensbisse. Wie am Tag zuvor gab es kein Frühstück, obwohl er diesmal gerne einen Bissen gegessen hätte. Doch bis zu seiner Ankunft in Bollands Schenke würde er hungrig bleiben. Mehr Sorgfalt verwandte Alois Schneidt darauf, seine Kleidung zu säubern. An diesem Morgen blieb kein Blatt auf seinem Rock haften, und er kämmte die Haare mit den Fingern. Nachdem er sein Reff auf den Rücken genommen hatte, machte er sich auf den Weg.
Zwei Stunden später traf er auf die Straße und hatte Glück, dass gerade niemand die Stelle passierte, bei der er aus dem Wald auftauchte. Nun konnte er endlich rasch ausschreiten und erreichte schon am frühen Nachmittag das Stadttor. Da die Wachen ihn von seinen früheren Wanderungen kannten, ließen sie ihn unkontrolliert passieren. Kurz darauf tauchte Bollands Gasthaus vor ihm auf, und er trat eilig ein.
Der Wirt sah ihn kommen und begrüßte ihn. »Heuer bist du ausnahmsweise vor deinem Bruder hier, Schneidt!«
»Was? Martin ist noch nicht da?«
Alois Schneidt kam die eigene Stimme kratzig und unnatürlich vor. Daher hustete er kurz und schüttelte den Kopf. »Das wundert mich, denn ich dachte, ich hätte mich verspätet, und er würde schon auf mich warten. Füll mir einen Krug Wein, und wenn du was zum Essen hast, kannst du es mir geben. Ich habe großen Hunger mitgebracht!«
Nun klang Alois’ Stimme wieder normal. Er setzte sich, wartete, bis der Wirt ihm einen vollen Becher hinstellte, und leerte ihn zur Hälfte, ehe er ihn absetzte.
»Das tut gut, Bolland! Auf diesen ersten Becher Wein bei dir freue ich mich jedes Mal. Jetzt muss nur noch der Martin eintreffen, dann können wir auf ein weiteres Jahr mit guten Geschäften anstoßen.«
»Und? Waren die Geschäfte diesmal gut?«, wollte der Wirt wissen. »Das Meine wäre es ja nicht, mit der schweren Kiepe auf dem Rücken Dutzende von Meilen über Land zu ziehen.«
»Reff, Bolland! Es heißt Reff! Eine Kiepe ist nur ein besserer Korb, den ein schlichter Hausierer auf dem Rücken mit sich schleppt. Mein Bruder und ich sind Wanderapotheker – oder Königseer, wie die Leute sagen. Wir verkaufen Arzneien und Tinkturen, die Krankheiten fernhalten oder vertreiben. Was die Geschäfte angeht, gingen sie gewiss besser, wenn die Franzosen nicht ganze Landstriche verheert hätten.«
Alois gab sich Mühe, so zu tun, als wäre er stolz auf sein Gewerbe. Doch im Grunde war er nur ein wandernder Hausierer, der darauf aus war, seine Ware an den Mann oder, besser gesagt, an die Frau zu bringen. Die Weibsleute wussten die alten Heilmittel, die in seiner Heimat erzeugt wurden, am meisten zu schätzen.
»Jetzt ärgere dich nicht, Schneidt. Ich habe es nicht böse gemeint. Außerdem habt ihr doch noch den Markt hier in Gernsbach vor euch. Da verkauft ihr gewiss alles, was ihr übrig habt, und ich brauche auch ein paar Sachen. In einer Herberge wird leicht einer krank, und da ist es gut, gleich eine Arznei bei der Hand zu haben.«
»Du bekommst einen guten Preis von mir«, versprach Alois scheinbar versöhnt. »Bring aber zuerst etwas zu essen! Mein Magen hängt mir schon in den Kniekehlen. Weil ich dachte, ich wäre zu
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