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Die Wanifen

Die Wanifen

Titel: Die Wanifen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: René Anour
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Kapitel 1
    Die Alpen in grauer Vorzeit
     
     
     
    »H ol deinen Eibenbogen und den Köcher mit den Pfeilen! Ataheim wird fast leer sein. Die Jäger stellen gerade einem verwundeten Elchbullen nach. Die Frauen sind mit den Kindern im Wald, um Pilze zu sammeln. Niemand darf dich sehen! Du darfst niemandem sagen, wo du hingehst. Schau nicht zurück!«
     
    Ich war bereit, meinem Zuhause den Rücken zu kehren. Wer wusste, für wie lange? Angst hatte ich keine. Vielleicht musste ich etwas riskieren, um glücklich zu werden.
    Für meinen Entschluss gab es viele Gründe, aber über die wollte ich auf dem Weg zurück ins Dorf nicht nachdenken. Dieses Leben gehörte der Vergangenheit an. Vielleicht würde ich eines Tages daran zurückdenken und lächeln, so wie man bei Tageslicht über einen Albtraum lächelte, der seine Bedrohlichkeit verloren hatte.
    Zwischen den Stämmen der alten Tannen sah ich bereits die ersten Pfahlhütten auftauchen. So lange meine Erinnerung zurückreichte, war das Dorf Ataheim mein Zuhause.
    Auf unzählige Pfähle gestützt, ragten die Hütten aus den glitzernden Fluten des Sees empor, dicht aneinandergedrängt wie eine Gruppe Sperlinge im Winter. Nur die Hütte von Alfanger, dem alten Heiler, stand etwas abseits. Ihn würde ich vermissen – und den See. Schon als kleines Mädchen faszinierten mich die unzähligen Farben, die das Wasser annehmen konnte. Am meisten liebte ich es, wenn vereinzelte Sonnenstrahlen zwischen dunklen Gewitterwolken hindurch auf die Oberfläche trafen – dann leuchtete das Wasser wie die grünen Kristalle, die ich manchmal am Ufer des Weytaflusses fand.
    Das Dorf war tatsächlich leer, als ich es betrat, genau , wie Gorman es vorausgesagt hatte. Nicht ganz, da war ich mir sicher. Ein paar Alte, für die der Weg in den Wald zu beschwerlich war, ruhten in ihren Hütten, um der Mittagshitze zu entgehen. Die würden mich nicht bemerken. Über die Jahre hatte ich gelernt, mich lautlos über die Stege zu schleichen. Die Hütte des Heilers lag vor mir. Er hatte mich unterrichtet, seit mich unser Häuptling bei ihm in die Lehre gegeben hatte.
    In Ordnung, Ainwa, hinein und wieder hinaus. Nimm nur deinen Eibenbogen und die Pfeile, vielleicht auch noch die Gamsfelljacke – es war zwar Sommer, aber in ein paar Monaten würde mein Hemd aus Wisentleder nicht mehr ausreichen, um mich warm zu halten.
    »Wo willst du hin, Ainwa?«
    Ich fluchte innerlich, als eine runzlige Hand das Wisentfell am Eingang zur Seite schlug und Alfangers Gestalt im Dunkel der Hütte auftauchte. Der Schatten ließ die Furchen in seinem Gesicht noch deutlicher hervortreten, als hätte sie jemand mit einer Klinge in seine ledrige Haut gekerbt. Er musste geahnt haben, was ich vorhatte. Normalerweise suchte er um diese Tageszeit am Rand des Seemoors nach Sonnentau.
    »Ich … ich brauche noch mehr Blutweiderich, für Hongars Heiltrank.«
    Alfangers Blick glitt ungläubig über den Eibenbogen und die Gamsfelljacke in meinen Händen.
    »Ich muss mit dir sprechen«, murmelte er.
    »Ich kann nicht«, antwortete ich und drückte meine wenigen Habseligkeiten an mich.
    »Und ich kann keinen Augenblick länger warten«, erwiderte Alfanger mit rauer Stimme. »Ich habe seit Jahren versucht, den Mut für dieses Gespräch zu finden.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Dann hast du zu lange gewartet«, flüsterte ich. »Ich verschwinde!«
    Ich wollte mich an ihm vorbeidrängen, aber er hielt mich am Arm fest. Mit einer entschlossenen Geste riss ich mich los und trat ins grelle Sonnenlicht hinaus.
    »Du wirst heute Nacht sterben, Ainwa«, rief er mir hinterher, als ich über den schmalen Steg davonstapfte.
    Ich verharrte. Für einen Augenblick starrte ich in das glitzernde Wasser zwischen den Holzplanken unter meinen Füßen. Lächelnd schüttelte ich den Kopf.
    »Ein Trick, damit ich bleibe«, wisperte ich. »Denk dir etwas Besseres aus.«
    »Auch dein Bruder Gorman wird sterben, wenn er dich begleitet.«
    Ich wandte mich langsam zu ihm um und warf ihm einen finsteren Blick zu.
    Alfanger kannte mich zu gut. Er wusste, ich würde es nicht leichtfertig in den Wind schlagen, wenn Gorman Gefahr drohte. Seit ich ein kleines Mädchen war, war Gorman der Mensch, der mir von allen am meisten am Herzen lag.
    »Niemand würde ihm wehtun«, sagte ich. »Das weißt du.«
    »Hör mir zu«, murmelte Alfanger mit flehendem Blick. »Bitte! Es wird nicht lange dauern.«
    Widerwillig kam ich zurück und beobachtete, wie er sich ächzend auf

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