Finish - Roman
1
DIE VERRÜCKTEN IM TAL
Den Tag, als die Verrückten ins Tal kamen, würde White Wolf nie vergessen.
Schon lang hatte er von einem solchen Moment geträumt – dass der weiße Mann käme, alle Krieger wären fort und nur er, White Wolf, könnte den Stamm schützen. Dann kehrte sein Vater Swift Dog zurück, und White Wolf würde ihm stolz sein Werk zeigen, die Skalps, die schlaff und blutrot vor Swift Dogs Tipi baumelten.
Aber dann war es doch anders gekommen. An jenem Morgen hatte sein Vater ihn auf dem Felshang oberhalb des Tals postiert, und er hatte Stunden damit zugebracht, den zerklüfteten Abhang zu dem gewundenen Pfad im Tal hinunterzustarren, der einzige Weg ostwärts zum einen Tagesritt entfernten Dorf des weißen Mannes. Doch niemand war aufgetaucht, und um die Mittagszeit hatte er rücklings dösend auf dem flachen Felsen über dem Canyon gelegen und sich die warme Frühlingssonne auf den gedrungenen braunen Körper scheinen lassen.
Schließlich hatte er angefangen, mit seinem Bogen zu üben und auf eine 20 Schritt entfernte knorrige Yucca zu zielen. Nach rund 100 Schüssen und mageren 16 Treffern waren seine Arme allmählich lahm geworden, und er war Steinchen kickend die Böschung hinunter zu seinem Dorf zurückgeschlendert, das rund 100 Meter entfernt unter träge emporsteigenden Rauchsäulen am Ufer eines Flusses lag. Er war durch das Dorf gestreunt, hatte mit einem Stock nach den Dorfkötern ausgeholt und eine Weile seinen Freunden zugesehen, die drei zusammengebundene Spatzen piesackten.
Dann war er zum Zelt seiner Schwester Morning Star gegangen, das unweit des Flusses am Dorfrand lag. Ihretwegen waren die Krieger unterwegs, für das Fest, das begangen wurde, weil die Zeit ihrer Reife gekommen war. Fünf Tage würden die Feierlichkeiten andauern, an denen sie gar nicht teilhaben durfte, und danach würden ihr die Augenbrauen gezupft werden und die Männer um sie werben dürfen. White Wolf wusste, dass dies ein bedeutendes Ereignis war, knorrige Krieger würden abenteuerliche Geschichten von Schlachten gegen die Spanier erzählen, von längst vergangenen Tagen, als ein Sioux zu Pferde mit einem Köcher voller Pfeile dem Bleichgesicht mit seiner schwerfälligen Büchse mehr als ebenbürtig war. Obgleich er den Sinn des Festes nie verstanden hatte, bedeutete es für ihn einen vollen Bauch, Hirschbraten, Honigkuchen und vielleicht sogar einen kräftigen Schluck des berauschenden Twilt-kah-yee .
Der Gedanke an das Fest ließ seinen Magen noch lauter knurren. Als er zu ihrem Tipi kam, war Morning Star ganz in ihre Arbeit versunken. Im Schneidersitz hockte sie in der Mittagssonne und nähte mit gedankenverlorenem Lächeln Glöckchen und Flitter an den Rock ihres braunen Hirschlederkleides. Von einem Fuß auf den anderen wippend, stellte er sich vor sie hin. Ohne ihn anzusehen, unterbrach sie ihre Arbeit und kroch zurück in ihr Zelt.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie endlich wieder hervor. Sie hatte die Hände hinter dem Rücken versteckt, und ihre großen schwarzen Augen funkelten.
»Augen zu und Hände auf«, sagte sie. Er gehorchte und fühlte etwas Weiches in der einen und etwas Hartes, Ledriges in der anderen Hand.
»Augen auf.«
Sein Blick fiel auf zwei Maiskuchen in seiner rechten und ein paar Stücke braunen Pemmikan in der linken Hand.
»Das muss bis Sonnenuntergang reichen!«, rief sie ihm nach, als er zurück zu seinem Posten rannte. Doch er hörte sie nicht.
Das Essen hatte kaum 20 Minuten vorgehalten, und wie er in der stillen Frühnachmittagshitze dalag und träge zur Talmündung hinabstarrte, hatte er Mühe, die Augen offen zu halten. Dann fiel ihm sein Speer wieder ein, der seit dem Morgen senkrecht in der weichen Erde neben dem Felsen steckte.
Er griff danach, legte ihn flach in die Hand und platzierte Zeige- und Mittelfinger hinter der Wicklung, um beim Ausholen genügend Halt zu haben. Er wollte gerade auf die pfeilgespickte Yucca zielen, als Pferdewiehern zu ihm empor hallte. Sofort ließ er den Speer fallen, huschte zu dem flachen Felsüberhang und spähte in die schattige Tiefe.
Ein von zwei Pferden gezogener Planwagen zuckelte in das Tal und hielt rund 200 Meter entfernt im Schatten eines Berghanges am anderen Ende der Schlucht. Der Fahrer, ein großer, schlanker, leicht gebückter Mann in schwarzen Hosen und Stiefeln, kragenlosem weißem Hemd und mexikanischem Sombrero, sprang vom Bock, ging zur Rückseite des Wagens und war einen Moment lang nicht mehr zu sehen.
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