Die weise Frau
sie hegte. Der Tod des alten Farmers war leicht mit der erblichen Herzschwäche in seiner Familie zu erklären. Morach hütete sich davor zu prahlen.
Ihr Land bekam sie nie zurück. Und seit jenem Tag kamen die Dorfkinder nicht mehr zum Spielen an das Wasser vor ihrer Hütte. Diejenigen Besucher, die sich auf die einsame Straße und in die Dunkelheit wagten, kamen eingemummt im Schutze der Nacht. Sie gingen mit kleinen Kräutersträußlein oder Sprüchen auf kleinen Papierfetzen, auf der Haut zu tragen, und manchmal mit Köpfen voller Träume und unwahrscheinlichen Versprechungen wieder weg. Und das Dorf erinnerte sich der Erzählungen, nach denen es in der Hütte am Fluß immer eine listenreiche Frau gegeben hatte. Eine listenreiche Frau, eine weise Frau, ein unentbehrlicher Freund, ein gefährlicher Feind. Morach — ohne Land, von dem sie leben konnte, und ohne Mann, der sie schützen konnte — schürte den gefährlichen Aberglauben, nahm Lob und hohe Bezahlung für Heilungen und gab die Schuld für Tote den anderen hiesigen Zauberern.
Nur Tom benutzte damals noch ungeniert die Straße von Bowes zur Hütte, und alle wußten, daß er Morachs kleinem Findelkind Alys den Hof machte und daß sie heiraten würden, sobald seine Eltern die Zustimmung gaben.
Einen langen Sommer lang trafen sie sich, saßen am Fluß, der still und geheimnisvoll zwischen den tiefen Einbuchtungen des Flußbettes dahinfloß. Einen Sommer lang trafen sie sich jeden Morgen, bevor Tom zur Arbeit auf die Felder seines Vaters ging und Morach Alys rief, damit sie hinaus ins Moor ging und irgendein Blatt oder Kraut suchte, das Morach brauchte, oder um den steinigen Garten umzugraben. Sie waren sehr zärtlich miteinander, voller Achtung. Sie begrüßten und verabschiedeten sich mit einem sanften Kuß auf den Mund. Beim Spazierengehen hielten sie sich an der Hand, und manchmal legte er den Arm um ihre Taille, und sie lehnte ihren braungoldenen Kopf an seine Schulter. Nie zwickte er sie oder zerrte sie herum, noch steckte er seine Hände unter ihren braunen Schal oder ihren grauen Rock. Am liebsten saß er neben ihr am Flußufer und lauschte ihren Erzählungen oder erfundenen Geschichten.
Ihr gefiel es am besten, wenn seine Eltern auf Lord Hughs Feldern arbeiteten und er sie zur Farm bringen konnte, um ihr die Kuh und das Kalb, die Wäschetruhe, das Zinn und das große Holzbett mit den dicken, alten Vorhängen zu zeigen. Dann lächelte Alys immer, und ihre dunklen Augen funkelten genüßlich wie die einer Katze, die gestreichelt wurde.
»Bald werden wir zusammen sein«, murmelte Tom dann immer.
»Hier«, sagte Alys.
»Ich werde dich jeden Tag meines Lebens lieben«, versprach Tom.
»Und wir werden hier leben«, sagte sie.
Nachdem Morach ihre Felder verloren hatte, suchten Toms Eltern nach einem besseren Mädchen als diesem, das nur eine zusammengefallene Hütte und den kleinen Flecken Erde darum herum mitbrachte. Alys wußte vielleicht mehr über Blumen und Kräuter als jeder andere im Dorf, aber Toms Eltern brauchten keine Schwiegertochter, die zwanzig verschiedene Gifte und vierzig verschiedene Gegengifte kannte. Sie wollten ein fröhliches, rundgesichtiges Mädchen mit einer fetten Mitgift. Sie wollten ein Mädchen mit breiten Hüften und starken Schultern, das den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten konnte und ihnen dann abends ein gutes Essen auf den Tisch brachte. Eine, die mühelos Kinder zur Welt bringen würde, möglichst einen Sohn, der dann nach ihrem Tod die Farm erben würde.
Alys mit ihren wehenden, goldbraunen Locken, ihrem Korb mit Blättern und ihrem blassen, verschlossenen Gesicht wollten sie nicht. Sie sagten Tom ohne Umschweife, daß er sie sich aus dem Kopf schlagen solle. Doch er erwiderte, daß er heiraten würde, wie es ihm beliebe, und wenn sie ihn dazu zwingen würden, würde er Alys wegbringen — vielleicht sogar bis nach Darneton selbst —, das würde er tun, und falls es nötig wäre, Soldat werden.
Das durfte nicht geschehen. Lord Hugh würde nicht dulden, daß zwei junge Leute seine Ländereien ohne seine Zustimmung verließen. Und es war nicht ratsam, Lord Hugh häusliche Zwistigkeiten schlichten zu lassen. Er würde zwar kommen und ein faires Urteil sprechen, aber beim Verlassen des Hauses würde ein Zinnkrug seinen Gefallen finden, oder er würde ein Pferd sehen, das er haben mußte, koste es, was es wolle. Und obwohl er immer wieder betonte, wie großzügig er doch sei, er zahlte doch immer weniger als den
Weitere Kostenlose Bücher