Die weise Frau
zu heben, einen Blick mit ihr zu tauschen. Sie spürte den Wunsch von Mutter Hildebrande, ihr noch einmal ins Antlitz zu schauen, ohne Täuschung, ohne Heuchelei, jeder von ihnen wissend, was der Andere wirklich war — klar und offen wie damals, als Alys noch das kleine Kind im Garten war und Hildebrande die Tochter sah, die sie niemals haben würde.
Alys wußte, daß Hildebrande auf einen kurzen Blick von ihr wartete. Einen ehrlichen Austausch von Reue, Verzeihen, Erlösung.
Einen Abschied.
Alys hielt den Kopf gesenkt, bis sie hörte, wie man die alte Frau hinaustrug. Sie wollte sie nicht anschauen. Es gab keinen Abschied.
In meinem Traum roch ich den stinkenden Odem einer vorbeiziehenden Hexe, zog die glatten, gestickten Laken über meinen Kopf und flüsterte: »Heilige Maria, Mutter Gottes, bete für uns«, um mich vor meinem Traum zu schützen, vor einem Nachtmahr des Grauens. Dann hörte ich Schreie und das beängstigende Knistern hungriger Flammen. Ich schreckte mit hämmerndem Herzen aus dem Schlaf, setzte mich in meinem Bett auf und sah mich ängstlich in den weißgetünchten Wänden meiner Kammer um.
Die Wände waren scharlachrot gefärbt, vom unsteten Licht sich spiegelnder Flammen, und ich hörte das tiefe, erregte Murmeln einer wartenden Menschenmenge. Ich hatte zu lange geschlafen in meinem Kummer und meiner Verwirrung — ich hatte zu lange geschlafen, und sie hatten die Reisigbündel um ihre Füße geschichtet und auch schon angezündet. Ich raffte meinen Umhang und rannte durch die offene Tür meines Zimmers, hinaus in die Damengalerie, wo das Licht hell durch das bunte Glas des Erkerfensters schien und der Rauch durch die offene Scheibe strömte, vor der die Frauen versammelt waren. Eliza Herring wandte sich mir zu, eine Seite ihres Gesichts glühte im Widerschein des Feuers draußen, und sagte: »Wir haben Euch gerufen, aber Ihr habt so fest geschlafen. Kommt schnell, Lady Alys, es brennt schon lichterloh.«
Ich gab keine Antwort, sondern rannte zur Tür, die Wendeltreppe hinunter und hinaus in den Hof.
Sie hatten ihren Scheiterhaufen in der eckigen, mit Steinen gefüllten Grube vor dem Kerkerturm errichtet und kleine Stücke trockener Kienspäne und Holzreisig am Fuß des Haufens aufgestapelt, damit er oben stark und hell brennen würde.
Vor dem Feuer standen Soldaten und Bedienstete sowie Lord Hugh, Stephen und die Priester — und mein Hugo. Die Stadtbewohner wurden zurückgehalten, aus Angst vor ihrem Zorn. Hugo drehte sich um und sah mich in der Tür stehen, mit offenen, wehenden Haaren und Augen, die von Angst getrübt waren. Er streckte die Hand nach mir aus, wollte auf mich zugehen, aber ich war zu schnell für ihn.
Ich rannte über den Hof auf das Feuer zu, auf die Flammen, und ich sah im Hitzeflimmern das weiße, gequälte Gesicht von Mutter Hildebrande. Der Wind blies von Westen, ein sauberer Wind, der nach Regen roch. Er hielt die Flammen von mir fern. Ich krabbelte wie ein Kind, das auf einen Felsen klettert, über den breiten Rand von Kienspänen über das Reisig zum Mittelpfosten und packte ihren dünnen, gemarterten Körper an den Knien, dann fand ich Halt, zog mich hoch und packte sie um die Taille.
Ihre Hände waren an den Rücken gefesselt, sie konnte mich nicht umarmen. Aber sie wandte mir ihr Gesicht zu, und ihre wunden Augen waren voller liebe. Sie sagte nichts, sie schwieg, friedvoll, wie das stille Auge eines Sturms, während die Flammen nach uns gierten wie die Zungen hungriger Schlangen. Ich würgte in dem Rauch, und mir schwindelte vor Hitze und Angst.
Tief in meinem Leib strampelte und kämpfte mein Baby, als könnte es auch die Hitze spüren, als wollte es auch um jeden Preis am Leben bleiben. Ich schaute durch den wabernden Rauchschleier und sah Hugos weißes, von Panik verzerrtes Gesicht mir zugewandt, und ich versuchte meine Lippen zu zwingen, »Leb wohl« zu sagen, aber ich wußte, daß er mich nicht richtig sehen konnte. Sein Augenlicht war zu matt, wurde ständig schwächer. Er konnte nicht sehen, wie ich ihm Lebewohl sagte.
Ich klammerte mich fest an ihre Taille und versuchte mich zu zwingen stillzustehen, wie eine Frau mit heiligem Mut. Vergeblich. Die Bündel trockenen Holzes unter meinen Füßen rutschten, die Flammen leckten jetzt von unten herauf. Ich trat von einem Fuß auf den anderen, wie bei einem närrischen Tanz, und versuchte vergeblich, meine bloßen Füße vor dem Schmerz des Brennens zu bewahren.
»Alys! Spring!« brüllte Hugo. Er
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