Die weise Frau
Alys. Von dem Augenblick an, in dem sie die großen ruhigen Räume mit den dunklen Holzböden sah, war sie entschlossen zu bleiben. Eine große Sehnsucht nach der Sauberkeit der kahlen, weißen Zellen hatte sie erfaßt, nach der Stille und Ordnung der Bibliothek, dem kühlen Licht des Refektoriums, in dem die Nonnen schweigend aßen und einer klaren Stimme lauschten, die aus der Heiligen Schrift vorlas. Sie wollte eine Frau wie Mutter Hildebrande werden, alt und geachtet. Sie wollte auf einem Stuhl sitzen und von einem silbernen Teller essen. Sie wollte einen Becher aus Glas, nicht aus Blech oder Bein. Und sie sehnte sich, mit einer Leidenschaft, wie sie nur die Hungrigen und die Schmutzigen kennen, nach sauberer Wäsche und gutem Essen. »Ich will bleiben«, sagte sie.
Mutter Hildebrande legte ihre Hand auf den warmen, schmutzigen Kopf des Kindes. »Und was ist mit deinem kleinen Herzensfreund?« fragte sie. »Du wirst ihm entsagen müssen. Du darfst ihn nie mehr wiedersehen, Alys. Das ist ein hoher Preis.«
»Ich habe nicht gewußt, daß es Plätze wie diesen hier gibt«, sagte Alys schlicht. »Ich habe nicht gewußt, daß man so sauber sein kann, daß man so leben kann, auch wenn man nicht Lord Hugh ist. Das habe ich nicht geahnt. Toms Farmhaus war das beste, was ich je gesehen habe, also wollte ich das. Ich habe nichts Besseres gekannt.«
»Und du willst nur das Beste«, half Mutter Hildebrande sanft nach. Die Sehnsucht des Kindes nach Erlesenem war wirklich rührend bei einem so jungen Ding. Sie konnte es nicht Eitelkeit nennen und verdammen. Das kleine Mädchen liebte den Kräutergarten genauso wie das Silber im Refektorium.
Alys zögerte und schaute dann der alten Dame direkt in die Augen. »Ja, das will ich. Ich will nicht zurück zu Morach. Ich will nicht zurück zu Tom. Ich will hier leben. Ich will hier für immer und ewig leben.«
Mutter Hildebrande lächelte. »Gut«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Für immer und ewig. Ich werde dich lesen und schreiben lehren und zeichnen und die Arbeit im Destillationsraum, bevor du dich entscheiden mußt, ob du das Gelübde ablegst. Ein Mädchen sollte nicht zu jung dem Orden beitreten. Ich möchte, daß du dir sicher bist.«
»Ich bin mir sicher«, sagte Alys leise. »Ich bin mir jetzt sicher. Ich will für immer hier leben.«
Dann hatte Mutter Hildebrande Alys der Obhut einer der jungen Novizinnen unterstellt, die über ihre grobe Sprache lachte und ihr eine kleine Tracht zurechtschnitt. Sie waren zusammen zum Abendessen und Beten gegangen.
Während Tom auf sie wartete, bis die Sonne unterging und ein heller Mond am Himmel erschien und mit ihm wachte, genoß Alys heiße Milch und Brot aus einer Porzellanschale und schlief dann friedlich auf dem ersten sauberen Strohsack in ihrem Leben ein.
Die ganze Nacht betete die Äbtissin für das kleine Mädchen. Sie kniete in der ärmlichsten Bank der Kapelle. »Beschütze sie, Heilige Mutter«, endete sie, als die Schwestern in schläfrigen, stummen Reihen zur ersten der acht täglichen Andachten die Kapelle betraten. »Beschütze sie, denn ich glaube, daß wir in der kleinen Alys ein ganz besonderes Kind gefunden haben.«
Mutter Hildebrande ließ Alys im Kräutergarten und im Destillationsraum arbeiten und bereitete sie auf ihr Gelübde vor. Sie brachte Alys schnell lesen und schreiben bei. Das Mädchen lernte die getragenen Meßgesänge auswendig, ohne die Worte zu verstehen. Doch allmählich begann sie Latein zu verstehen, und schließlich konnte sie lesen und schreiben. Tadellos, makellos verführte sie Mutter Hildebrande dazu, sie zu lieben, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sie war der Liebling des Hauses, das Herzblatt aller Nonnen, ihre kleine Schwester, ihr Wunderkind, ihr Segen. Den Frauen, denen eigene Kinder versagt blieben, war es eine besondere Freude, Alys zu unterrichten und mit ihr zu spielen, und die jungen Frauen, denen ihre kleinen Brüder und Schwestern zu Hause fehlten, konnten Alys streicheln, mit ihr lachen und beobachten, wie sie heranwuchs.
Tom — der sich wochenlang vor dem Tor herumgetrieben und einige Male Prügel vom Pförtner bezogen hatte — schlich zurück zu seiner Farm und seinen Eltern und wartete in schmerzlichem Schweigen auf Alys' Heimkehr, wie sie es ihm versprochen hatte.
Sie kehrte nie zurück. Das ruhige, geregelte Leben war Balsam für sie nach Morachs Wutausbrüchen und Flüchen. Der Duft des Destillationsraumes und der Geruch der Kräuter setzten sich an ihren
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