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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Gregory
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sammelte die Knochen ein und steckte sie in den kleinen zerlumpten Beutel zurück, den sie unter ihrem Strohsack verbarg. Dann legte sie einen von Ungeziefer wimmelnden zerfetzten Wollschal um ihre Schultern, stieß ihre rauhen Holzschuhe von den Füßen und schlief lächelnd ein.
    Schwester Ann erwachte am Morgen als erste, das Ohr bereit für das Klopfen der Nonne, die sie zum Morgengebet rief. Sie öffnete die Augen, wollte Deo gratia auf das vertraute Benedicte erwidern, doch es blieb totenstill. Mit verschrecktem Blinzeln sah sie die dunklen Dachsparren und das Flechtwerk eines Reetdaches über ihrem Kopf statt des schlichten, gottgefälligen weißen Putzes ihrer Zelle. Dann durchfuhr sie das Bewußtsein ihres Verlustes, und ihre Augen verdüsterten sich noch mehr. Sie drehte ihr Gesicht und ihren kahlen Kopf in die Lumpen, die als Kissen dienten, und weinte.
    Leise flüsterte sie ihre Gebete, immer und immer wieder, ohne große Hoffnung, gehört zu werden. Kein beruhigender Gebetssingsang umgab sie, und auch nicht der süße, kräftige Geruch von Weihrauch. Keine klaren hohen Stimmen, die den Herrn und die Muttergottes priesen. Sie hatte ihre Schwestern verlassen, ihre Mutter der Grausamkeit und der Wut der Zerstörer überlassen, und dem Mann, der wie der Teufel lachte. Sie hatte sie in ihren Betten verbrennen lassen und war wie ein leichtfüßiges Reh den ganzen Weg zu ihrem ehemaligen Zuhause gelaufen, als wäre sie in den vergangenen Jahren nicht ein Kind der Abtei und Mutter Hildebrandes Liebling gewesen.
    »Bist du wach?« fragte plötzlich Morach.
    »Ja«, erwiderte das Mädchen ohne Namen.
    »Hol frisches Wasser und bring das Feuer in Gang. Kalt wie eine Heiligenkrücke ist es heute früh.«
    Das Mädchen erhob sich bereitwillig und zog ihren Umhang fester um die Schultern. Sie kratzte die weiche, weiße Haut ihres Halses, der bis hinter die Ohren von einer Kette von Flohbissen gesäumt war. Mit grimmigem Gesicht rieb sie die Bisse und kniete sich vor die Feuerstelle. Das Feuer in dem kleinen Steinkreis im Lehmboden war nur noch graue Asche um einen letzten Rest Glut. Sie legte ein paar Kienspäne darauf, beugte ihren kahlen Kopf und blies. Der Span fing Feuer. Sie blies ein wenig fester. Die Glut wurde heller, und eine rote Feuerspur fraß sich den Span entlang. Auch als die Flamme wieder erlosch, schwelte die Glut weiter. Ein Zweig fing Feuer, flackerte leise und brannte mit gelber Flamme. Schwester Ann hockte sich auf ihre Fersen und fuhr sich mit rußiger Hand übers Gesicht. Der Geruch brennenden Holzes klebte an ihren Fingern. Sie wich davor zurück wie vor Blutgeruch.
    »Hol das Wasser!« rief Morach von ihrem Bett aus.
    Schwester Ann steckte ihre kalten Füße in die feuchten Stiefel und ging nach draußen.
    Die Hütte stand allein, ein paar Meilen westlich des Dorfes Bowes. Davor glitt in stumpfem Silber der Fluß Greta dahin, ohne ein einziges Kräuseln. Auf diesem Stück arbeitete sich der Fluß zwischen gewaltigen Kalksteinblöcken hindurch. Im Winter tief und gefährlich, in Dürrezeiten nur noch aus Pfützen bestehend. Die Hütte war neben einem der tieferen Wasserlöcher erbaut worden, das selbst im heißesten Sommer nicht austrocknete. Früher, als Schwester Ann noch ein kleines Mädchen gewesen war und jeder sie bei ihrem Taufnamen Alys nannte, Morach noch die Witwe Morach war und geachtet wurde, waren die Kinder aus dem Dorf immer hierhergekommen, um im Wasser zu planschen und zu schwimmen. Alys hatte mit ihnen gespielt, mit Tom und mit einem halben Dutzend anderer. Dann hatte Morach ihr Land an den Farmer verloren, der behauptete, es gehöre ihm. Morach — die keinem Mann gehörte und launisch und selbständig war — hatte vor der Gemeinde und dem Kirchengericht gegen ihn geklagt. Nachdem sie verloren hatte (was keinen verwundert hatte, da der Farmer ein frommer Mann und reich war), hatte sie ihn im Beisein des ganzen Dorfes verflucht. Er war noch in derselben Nacht erkrankt und kurz darauf gestorben. Jeder wußte, daß Morach ihn mit ihrem Schlangenblick getötet hatte.
    Zu Morachs Glück war der Farmer im Dorf sehr verhaßt gewesen. Sonst hätte es böse für sie ausgehen können. Aber seine Frau war ein lieber Mensch, froh, ihn los zu sein, und erhob keine Anklage. Sie rief Morach zu sich ins Haus und bat sie um einen Breiumschlag gegen ihre Rückenschmerzen, für den sie ein Vielfaches des wahren Preises bezahlte, um sicherzugehen, daß Morach keinen gefährlichen Groll gegen

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