Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
entspricht solider Wissenschaft. Es birgt auch das Potenzial zur positiven Veränderung des Geschäftsverhaltens von Unternehmen.
Auf den folgenden Seiten soll zum einen der Versuch unternommen werden, die Welt so darzustellen, wie sie ist, indem das Augenmerk auf Dinge gelenkt wird, die auf den ersten Blick grundverschieden scheinen mögen, einander letzten Endes jedoch sehr ähnlich sind. Zum anderen handelt das vorliegende Buch aber auch davon, wie die Welt sein könnte. Ein besonders auffälliger Aspekt der »Weisheit der Vielen« besteht nämlich darin, dass man sie, obwohl sich ihre Wirkungen allenthalben bemerkbar machen, leicht übersieht und dass es selbst dann, wenn sie erkannt werden, oft sehr schwer fallen kann sie zu akzeptieren. Die meisten von uns – ob als Wähler, Investoren, Konsumenten oder Manager – sind der Auffassung, dass wertvolles Wissen in nur sehr wenigen Händen (oder besser gesagt: in nur sehr wenigen Köpfen) konzentriert ist. Wir gehen davon aus, der Schlüssel zur Lösung von Problemen oder zur richtigen Entscheidungsfindung liege darin, die eine richtige Person zu finden, die im Besitz der Antwort wäre. Auch angesichts einer großen Menge, die – ohne dass ihre meisten Mitglieder individuell besonders gut informiert sind – etwas Erstaunliches leistet, wie beispielsweise den Ausgang von Pferderennen vorherzusagen, neigen wir höchstwahrscheinlich dazu, solche Erfolge eher einigen klugen Köpfen innerhalb einer solchen Gruppe als der Gruppe selbst zuzuschreiben. Wir scheinen fast zwanghaft immer »nach dem Experten zu suchen«, so die Soziologen Jack B. Soll und Richard Larrick. In den folgenden Kapiteln soll die These vertreten werden, dass eine solche Hatz auf Experten ein Fehler ist, und ein kostspieliger Fehler obendrein. Wir sollten aufhören, hinter Experten herzuhecheln, und stattdessen die Menge befragen (der selbstverständlich wie alle anderen auch die Genies angehören). Die Chancen stehen einigermaßen gut, dass sie über das nötige Wissen verfügt.
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Schon die Vorstellung, dass eine Menschenmenge überhaupt etwas wissen könnte, hätte Charles Mackay hohnlachend zurückgewiesen. Dieser schottische Journalist veröffentlichte 1841 das Werk Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds [»Ungewöhnliche populäre Irrtümer und Massenwahn«], dem, wenn auch in Umkehrung, der Titel dieses Buches Tribut zollt. Es ist eine unerschöpflich unterhaltsame Chronik von Vorkommnissen des Massenwahns und kollektiver Dummheit: Mackay zufolge sind Massen nie weise, ja nicht einmal vernünftig, fallen kollektive Urteile stets unausgewogen und extrem aus. »Menschen, so ist einmal schön formuliert worden, denken in Herden«, schrieb er. »Wie zu zeigen sein wird, werden sie im Herdenverbund verrückt; zu Verstand kommen sie nur langsam und nur jeder für sich allein.« Mackays These von einem kollektiven Wahn ist keine Einzelerscheinung. In der Volksmeinung macht die Menge Menschen entweder blöd oder verrückt, wenn nicht gar beides zugleich. Dem Börsenspekulanten Bernard Baruch wird folgendes Urteil zugeschrieben: »Jeder Mensch ist, für sich genommen, einigermaßen vernünftig und rational – als Mitglied einer Menge aber wird er prompt zum Dummkopf.« Henry David Thoreau klagte: »Die Masse erreicht niemals das geistige Niveau ihres herausragendsten Mitglieds, sondern sinkt vielmehr auf das unterste individuelle Niveau in ihren Reihen.« Friedrich Nietzsche behauptete: »Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes – aber bei Gruppen die Regel.« Und der englische Historiker Thomas Carlyle fasste kurz und bündig zusammen: »Ich glaube nicht an die kollektive Weisheit individueller Ignoranz.«
Der schärfste Verfechter der These der Dummheit von Gruppen dürfte der französische Schriftsteller Gustave Le Bon gewesen sein, der 1895 mit seiner Polemik Psychologie der Massen Berühmtheit erlangte. Le Bon war über das Aufkommen der Demokratie in der westlichen Welt während des 19. Jahrhunderts entsetzt; er weigerte sich zu akzeptieren, dass gewöhnliche Menschen in der Politik und im kulturellen Leben Macht und Einfluss gewonnen hatten. Seine Verachtung der Menge ging jedoch tiefer. Eine Masse, so argumentierte Le Bon, sei nicht bloß die Summe ihrer Mitglieder; sie sei so etwas wie ein selbstständiger Organismus, habe eine eigene Identität, einen eigenen Willen und verhalte sich oft auf eine Weise, die kein Einzelner in ihr beabsichtigt habe. Wenn eine
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