Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
akzeptieren. Ich signalisiere Professor E., dass mich diese Argumentation betroffen macht: »Aber ich kann doch nicht solch einen Eingriff an 70 000 Patienten machen, der außerdem unser Gesundheitssystem jährlich mit 150 Millionen Euro belastet, nur für ein bisschen Placeboeffekt. Wenn ich einem Patient eine wirkungslose Zuckerpille als Placebo gebe, weil ich merke, er will unbedingt ein Medikament für ein Zipperlein, und diese Pille kostet das Gesundheitswesen 1 Euro 50, dann mag das im Einzelfall okay sein. Ein – wenn auch minimalinvasiver – chirurgischer Eingriff ohne medizinische Wirkung ist nicht okay! Nach geltender Gesetzeslage ist das Körperverletzung. Und Diebstahl am Gemeinwesen. Und was ist mit dem Risiko, mit der medizinisch sinnlosen Operation eine Infektion in das Kniegelenk zu tragen? Ein schlimmes Risiko, das schon viele Patienten zum Krüppel – entschuldigen Sie den Ausdruck – gemacht hat.«
Raubritter im weißen Kittel
Meine sehr persönliche und durchaus emotional vorgetragene Anklage brachte die bis dahin noch fast makellose medizinische Fassade von Professor E. zum Einstürzen. Ich werde nie vergessen, was er dann tat. Es war etwas Unvorsichtiges. Vielleicht dachte er, ich sei nicht mehr im Dienst, weil die Kamera schon ausgeschaltet und abgebaut war. Er senkte seine Stimme, lehnte sich etwas in meine Richtung, sah mir eindringlich in die Augen und sagte: »Wissen Sie, Herr Wittig, was mich bei uns auch manchmal ankotzt, das ist das hier.« Und er blickte auf seine rechte Hand, die er so bewegte, als würde er Geld zählen.
Für mich war das eine Offenbarung. Eines der wichtigsten Erlebnisse in meinem Berufsleben. Ein Ranghoher aus den Reihen der Kritisierten sagt: Ja, Sie haben recht mit Ihrer Kritik. Das ist für einen Mediziner wirklich eine atypische Aussage. Sonst gilt in dieser Branche eine eiserne Regel: »Keinen Zweifel aufkommen lassen, dass wir das Richtige tun. Bei uns sind die Patienten gut aufgehoben. Uns können sie uneingeschränkt vertrauen.« Und Professor E. – falls er diese Zeilen lesen sollte – wird sich wünschen, er hätte den Schein gewahrt, anstatt vor meinen Augen virtuelle Scheine zu zählen. Er wird sich wünschen, er hätte nicht davon abgelassen, die sinnlose Knorpelglättung zu verteidigen.
An uns Journalisten, die wir kritisch über Medizin berichten – zumindest mir geht es nach wie vor so –, nagt nämlich bei aller Sorgfalt in der Recherche immer auch ein heimlicher Zweifel: »Na, Frank«, höre ich die Stimme des heimlichen Zweifels sagen, »Verschwörungstheorie? Biste mal wieder einer dunklen Machenschaft auf der Spur?« Und dann wird die Stimme gemein. Sie kennt sich nämlich aus in unserem Geschäft: »Na klar! Womit sonst willst du deine Zuschauer/Leser ködern? Only bad news are good news. Ein anständiger Aufreger: Was anderes kommt gar nicht in die Tüte! Aber triffst du damit auch wirklich die Verhältnisse?« Ich werde Professor E. immer dankbar sein. Zumindest an dieser Stelle hat er meinen letzten heimlichen Zweifel vertrieben. Er hat die Zugbrücke runtergelassen, ich durfte in die Burg schauen, und was musste ich sehen? Raubritter!
Leitlinie verschwunden
Das wäre eine gute Stelle, um aus dem Thema auszusteigen. Aber ich muss die Geschichte noch ein Stück weiter erzählen. Im Dezember 2011 wollte ich wieder in die Leitlinien der DGOOC schauen. Vielleicht haben sie den Moseley jetzt, zehn Jahre nach Veröffentlichung der Studie, ja doch zumindest erwähnt. Sie, liebe Leserinnen und Leser, können das übrigens auch überprüfen. Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften sind im Internet zu finden. Die Gurus der Urologen, Gynäkologen, Onkologen – was immer Sie gerade brauchen – erklären in diesen Leitlinien, wie eine sachgerechte Diagnose und Therapie der Krankheiten auf ihrem Gebiet aussieht. Wir werden die Macht und die Funktion der Fachgesellschaften und der von ihnen formulierten Leitlinien später kritisch vertiefen. Hier genügt zunächst eine einfache Feststellung: Die gesamte Leitlinie zur »Gonarthrose« (der Fachbegriff für Knieverschleiß), in der auch zum Knorpelglätten geraten wird, war plötzlich verschwunden.
Ich gehe auf die Website der DGOOC, finde da immer noch Prof. Robert E. in verantwortungsvoller Position, seine E-Mail-Adresse und einen weiteren für das Thema »Knie« ausgewiesenen Orthopäden, den ich nicht näher charakterisieren möchte. Ich könnte theoretisch alle meine
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