Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Gesicht war tränennass.
»Warum?«, flüsterte sie.
Ohnmächtige Wut ergriff mit einem Mal von ihm Besitz, ungestüm und übermächtig.
»Sind das die Tabletten, die du Leonie immer verabreichst?«, brüllte er. »Machst du sie damit krank, ja?«
Sie erwiderte nichts, was seine Wut noch steigerte. »Was hast du jetzt vor? Willst du das Zeug selbst nehmen?« Er rammte seine Faust gegen die gekachelte Wand, der Schmerz feuerte ihn an. »Tu es doch! Mach schon! Nimm das Zeug, dann ist endlich Ruhe!«
Melanie sagte immer noch nichts, lediglich das Zittern ihrer Hände verstärkte sich.
»Na los, oder bist du zu feige? Wenn deine Tochter die Dinger schluckt, kannst du das ja wohl auch!« Er griff nach dem Zahnputzbecher und füllte ihn mit Wasser. »Fang an! Los!«
Stumm drückte Melanie die erste Tablette in die Handfläche und führte sie zum Mund.
Ihre Langsamkeit machte ihn rasend. »Nicht so lahm«, schrie er. »Du willst doch wohl nicht jede verdammte Pille einzeln einnehmen!«
Melanie gehorchte und drückte den Rest des Päckchens in ihre Hand. Sie stopfte die Tabletten in den Mund und nahm den Becher entgegen, den Olaf ihr hinhielt.
Es ist nur eine Lektion, dachte er, ich erteile ihr eine Lektion. Damit sie weiß, wie es sich anfühlt. Damit sie begreift, was sie ihrer Tochter all die Jahre angetan hat. Wenn sie alles geschluckt hat, stecke ich ihr den Finger in den Hals.
Melanie begann, den Inhalt des nächsten Päckchens zu schlucken. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
»Hey, nicht einschlafen!«, rief Olaf, als sie einen Augenblick zögerte. Er füllte Wasser nach.
Nachdem Melanie alles geschluckt hatte, senkte sich mit einem Mal eine unheimliche Stille über das Haus. Selbst der Verkehrslärm von der Straße schien zu verstummen. Noch einen kleinen Moment, sagte er sich. Sie soll spüren, wie es ist. Vielleicht ist der Schock heilsam.
Melanie begann zu wanken. Er fing sie nicht auf, sondern machte einen kleinen Schritt zur Seite. Er wollte sie nicht anfassen.
»Ich habe unserer Tochter nie ein Medikament gegeben, das ihr nicht vom Arzt verschrieben wurde«, sagte Melanie leise. Sie lallte ein bisschen, klammerte sich an das Waschbecken, ihre Knöchel waren weiß. »Ich habe … «
Von plötzlichem Ekel erfasst, stürmte Olaf aus dem Badezimmer. Er wollte es nicht hören. Er wollte nichts mehr hören, nie mehr. Er wartete im Wohnzimmer, er wusste nicht, wie lange, saß einfach da. Irgendwann hörte er ein Poltern, doch er reagierte nicht. Er wollte ganz sicher sein, bevor er den Notarzt rief.
Nach einer Ewigkeit stand er auf und stieg die Treppe hoch. Melanie lag auf dem Boden. Noch bevor er ihren Puls fühlte, wusste er, dass sie tot war. Es war vorbei. Er dachte nicht nach, tat einfach, was seine innere Stimme ihm befahl. Er schloss die Badezimmertür von innen und öffnete das Fenster. Das Garagendach lag nur einen Meter unter ihm. Er sprang hinaus, schob das Fenster vorsichtig zu, ohne Fingerabdrücke zu hinterlassen. Die Haustür war nicht verschlossen. Ein paar Minuten noch genoss er die Stille, dann ging er zum Telefon.
Melanie war tot, doch das bedeutete ihm nichts. Sie war nur vorausgegangen. Wieder begannen die Gleise zu singen. Es war so weit.
25
Die Meldung kam, als Lydia nach einer verspäteten Mittagspause und einem nervenaufreibenden Gespräch mit dem Untersuchungsrichter das Büro aufschloss. Antonia Bruckmanns Grab war entgegen der Absprache direkt nach der Beisetzung zugeschüttet worden, und jetzt brauchten sie eine richterliche Anordnung für eine Exhumierung. Vielleicht war das aber auch nicht mehr nötig, denn sie hatten Olaf Schwarzbachs Wagen gefunden. Auf einem Parkplatz im Wald, unweit der niederländischen Grenze.
Zehn Minuten später rasten sie auf der A 52 in Richtung Roermond. Es dämmerte bereits wieder. Lydia fuhr so schnell, wie es bei dem Schneetreiben möglich war. Salomon koordinierte per Mobiltelefon die Suche. Über Funk war das zu gefährlich, zu viele Aasgeier hörten mit. Er fluchte leise vor sich hin, weil fast alle zusätzlichen Kräfte mit den vielen Auffahrunfällen beschäftigt waren, die der Schnee jedes Mal mit sich brachte. Schließlich lehnte er sich erschöpft zurück und schloss die Augen.
»Kann es sein, dass Schwarzbach zu Fuß über die Grenze will?«, fragte Lydia.
»Ich fürchte, der ist längst über alle Berge«, antwortete Salomon resigniert.
»Das glaube ich nicht. Er ist seit drei Tagen weg. Der Förster ist aber sicher, dass der
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