Rabenherz & Elsternseele
Pias Erbschaft
E
s war der traurigste Sommerferienanfang meines Lebens. Vier Wochen vor dem ersten Ferientag war meine Oma verschwunden, und weder in ihrem Haus und Garten noch bei ihren Bekannten hatten wir seitdem die kleinste Spur von ihr gefunden. Meine Eltern und ich saßen am ersten Samstagabend der Ferien zu dritt am Esstisch. Niemand sprach ein Wort. Wer hätte sich in dieser Lage auch über freie Tage freuen können?
Mama sah mich mit ihrem sorgenvollen Blick an und zögerte so lange damit, den Mund aufzumachen, dass sich mir schon alle Haare sträubten, bevor sie anfing zu sprechen. »Pia, wir wissen, es ist schwer für dich. Aber ich fürchte, wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass Oma nicht mehr lebt.«
Es ist nicht so, dass es mir nicht selbst schon durch den Kopf gegangen war, trotzdem rastete ich aus.
Wütend sprang ich auf und schleuderte meinen Joghurtlöffel auf den Tisch. »Das wäre echt bequem für euch, stimmt’s? Solange sie uns helfen konnte, wart ihr froh, dass es sie gab. Aber jetzt, wo sie unsere Hilfe braucht, fändet ihr es praktisch, wenn sie einfach tot wäre!« Schon während ich die Worte laut aussprach, wusste ich, dass ich ungerecht war, konnte mich aber nicht bremsen.
Mama und Papa hatten die Polizei alarmiert, und sie hatten selbst nach Oma gesucht, und das vier Wochen lang. Sie hatten einfach keine Ideen mehr, was sie noch tun konnten. So wenig wie ich.
Papa legte die Stirn in Falten und knallte seinen Löffel ebenfalls auf den Tisch. »Red nicht so einen Blödsinn. Wir haben sie auch gern. Glaubst du, wir hoffen nicht …«
Wie immer: Papa wurde sauer, Mama kniff die Lippen zusammen und hatte Tränen in den Augen. »Pia!«, sagte sie flehend. Ich stürmte aus dem Raum, die Treppe hinauf in mein Zimmer und kletterte auf mein Hochbett. Die Räume in unserem Haus waren hoch, mein Bett lag weit über dem Boden. Ich konnte aus dem Fenster in die Krone unserer großen Kastanie sehen. Normalerweise fühlte ich mich hier oben total wohl, aber seit Omas Verschwinden kam ich mir vor, als lebte ich in einem Albtraum. Oma war immer für mich da gewesen, oft mehr als Mama und Papa. Während die beiden arbeiteten, hatte sie auf mich aufgepasst, und sie hatte mich immer verstanden, mit drei Jahren so gut wie jetzt mit zwölf. Zwölf und elf Monate, um genau zu sein. Neulich hatte ich mit meiner besten Freundin Annabelle noch Witze darüber gerissen, dass zu unseren dreizehnten Geburtstagen sicher etwas Besonderes passieren würde, weil die Dreizehn so eine geheimnisvolle Zahl ist. Da hatten wir uns gerade für ein Zeltlager an der Ostsee angemeldet. Anna war jetzt dort, ich hatte mich wegen Oma geweigert mitzufahren.
Mama klopfte an meine Tür. Zweimal kurz, wie immer, dann kam sie herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Aber das war in Ordnung. Es tat mir sowieso schon leid, was ich ihr an den Kopf geworfen hatte. »’tschuldige«, murmelte ich.
Sie stieg langsam die Leiter zu mir herauf, setzte sich mit baumelnden Beinen auf die Bettkante und seufzte. »Ist schon gut. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast. Natürlich wollen wir Oma Else nicht im Stich lassen, aber … Weißt du, damals, als dein Vater verschwunden war, da habe ich bis zum letzten Moment nicht geglaubt, dass er … Aber dann war er doch tot. Wir wollen ja hoffen, dass Oma lebendig wieder auftaucht. Die Wahrscheinlichkeit ist nach so langer Zeit allerdings …«
»Du musst mir das nicht erklären. Ich bin ja nicht blöd.«
»Ja.« Sie seufzte wieder und blickte dann eine Weile aus dem Fenster. »Dein Vater meinte immer, die Kastanie wäre das Beste an diesem Haus.«
Auch das hatte ich schon gewusst, es war eines der wenigen Dinge, die Mama mir über meinen Vater erzählt hatte. Alles andere wusste ich von Oma, denn selbst hatte ich ihn nicht gekannt. Ich war noch ganz klein gewesen, als er starb, und nicht viel größer, als mein Papa bei uns eingezogen war.
Mama wandte sich mir wieder zu. »Ich will dir aber noch erzählen, warum ich heute überhaupt davon angefangen habe. Wir haben einen Brief von Omas Anwalt bekommen. Er hat davon gehört, dass sie verschwunden ist, und hat uns über ihr Testament Bescheid gegeben. Für mich ist es keine Überraschung, für dich vielleicht schon. Oma hinterlässt dir alles, auch ihr Haus. Es darf nicht verkauft werden, bevor du einundzwanzig bist. Wir dürfen es nicht einmal vermieten, wenn du es nicht möchtest. Was sagst du dazu?«
Ich sagte dazu »wow«
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