Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
qualvoll daran sterben sehen. Mehr als zehn Jahre waren seit der Katastrophe vergangen, und er hatte geglaubt, davongekommen zu sein. Er hatte sich getäuscht. Die Strahlen waren tückisch, ihre Macht reichte weit. Das Einzige, was Elena von Andrej geblieben war, war die Medaille, die ihn als Helden auszeichnete, die Medaille, die allen Liquidatoren überreicht worden war. Der rote Blutstropfen, der in ihrem blauen Herzen leuchtete, erinnerte sie an die hässlichen Flecken auf der Tapete, an sein Blut, das gegen die Wand gespritzt war, als er sich die Waffe in den Mund gesteckt hatte. Er war gestorben, ohne zu wissen, dass er Vater wurde.
Immerhin hatte Elena etwas, das sie an Andrej erinnerte, von ihren kleinen Engeln besaß sie nichts. Nur die Erinnerung, wie es sich angefühlt hatte, wenn sie in ihrem Bauch strampelten, eine Erinnerung, die von Jahr zu Jahr blasser wurde.
Es klopfte. »Doktor Elena Wladimirowna?«
Elena seufzte. Noch einmal murmelte sie die Namen ihrer kleinen Mädchen, die zu schwach gewesen waren für diese Welt. »Nastia, Nataschka, macht es gut, meine Engel, wo auch immer ihr jetzt seid«, flüsterte sie in das Schneetreiben. Dann wandte sie sich ab und öffnete die Tür.
Nachbemerkung
Ich werde oft gefragt, woher ich meine Geschichten nehme. »Aus dem Leben«, antworte ich gewöhnlich. Und das stimmt auch. In diesem Fall war es eine Meldung, über die ich im Internet stolperte und die mich nicht mehr losließ:
Am 4. November 2002 brachte eine junge Frau namens Swetlana im Krankenhaus Nummer 6 in der ostukrainischen Stadt Charkow ein kleines Mädchen zur Welt. Am Morgen nach der Entbindung verkündete man der jungen Mutter, dass ihr Baby verstorben sei. Zeigen wollte man ihr den Leichnam jedoch nicht. Auch wo ihr totes Kind bestattet wurde, teilte man ihr nicht mit.
Dies war kein Einzelfall. Um das Jahr 2002 verschwand angeblich eine größere Anzahl neugeborener Babys aus ukrainischen Kliniken. Was mit ihnen geschah, ist ungewiss. Manche vermuten, dass sie an adoptionswillige Paare in Westeuropa verkauft wurden, andere Theorien besagen, dass man ihren Körpern die Organe entnahm und die Babys dann auf einer Müllkippe entsorgte.
Ich habe natürlich keine Ahnung, was tatsächlich mit diesen Neugeborenen geschehen ist. Soviel ich weiß, ist dies auch bis heute nicht endgültig geklärt. Jedenfalls habe ich mir die Freiheit genommen, diese Vorfälle als Ausgangspunkt für meine eigene Geschichte zu nehmen.
Sabine Klewe
Die weißen Schatten der Nacht
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