Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Opfer im Schnitt?«
»Keine jünger als dreißig bisher. Die meisten deutlich älter.«
»Also ist es sehr unwahrscheinlich, dass er einfach so auf kleine Mädchen umschwenkt«, sagte Köster. »Und ich glaube auch nicht, dass so einer mit einem Mal anfängt, seine Opfer zu vergewaltigen. Das passt nicht.«
»Aber wir dürfen die Möglichkeit nicht ausschließen«, sagte Lydia. »Vielleicht hat er sich bisher nur nicht getraut. Und dann liegt da plötzlich dieses tote Mädchen vor ihm, und er kann nicht widerstehen. Wirtz?« Sie sah den Kollegen an, der bisher schweigend zugehört hatte. »Ich möchte, dass du dich gemeinsam mit Schröder über Pädophilie, Nekrophilie und Exhibitionismus schlaumachst. Und dass ihr die Datenbanken mit den einschlägig bekannten Kandidaten durchgeht. Achtet vor allem darauf, ob jemand schon mal wegen Gewaltdelikten auffällig geworden ist. Ich möchte, dass wir jeder noch so kleinen Spur nachgehen.«
»Was ist mit den Eltern?«, fragte Wirtz zurück. »Wir wissen doch, wie oft solche Verbrechen innerhalb der Familie ausgeübt werden.«
»Da kümmern Salomon und ich uns drum. Wir fahren gleich zur Rechtsmedizin und von da aus nach Vennhausen. Wir haben noch nicht mit der Mutter gesprochen, und den Vater müssen wir auch noch einmal befragen. Außerdem möchte ich mit Antonias bester Freundin sprechen. Ich habe vorhin schon bei ihr angerufen, sie ist heute nicht in die Schule gegangen.« Lydia blickte nach links, wo das unzertrennliche Duo saß. »Meier. Schmiedel.«
»Befragung der Nachbarschaft, schon verstanden.« Schmiedel nickte ergeben.
Lydia sah ihn dankbar an. »Ich weiß, dass das die nervigste und mühsamste Arbeit ist. Aber sie ist wichtig.«
»Klar doch.« Schmiedel grinste. »Und wir sind so besonders gründlich und zuverlässig, dass du sie niemandem sonst anvertrauen möchtest.«
»Genau.« Lydia grinste zurück. »Nehmt euch vor allem den Kerl vor, der gestern am Tatort war. Den Nachbarn, der angeblich erste Hilfe leisten wollte.«
»Wird gemacht, Boss.« Schmiedel tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn.
»Und was mache ich?«, fragte Ruth Wiechert.
»Du fährst mit Köster in die Schule und versuchst, so viel wie möglich über Antonia Bruckmann zu erfahren. Von den Lehrern und von den Mitschülern. Was für ein Mensch war sie? War sie beliebt? Hatte sie irgendwelche Schwierigkeiten? Hat sie sich in letzter Zeit verändert? Von den Eltern bekommt man meistens eine geschönte Darstellung. Wir brauchen die Wahrheit.«
Als alle anderen den Besprechungsraum verlassen hatten, kam Salomon auf sie zu. Mit einem Mal war es still. Nur der Regen trommelte mit unverminderter Stärke gegen die Scheiben. Viel heller war es draußen auch noch nicht geworden. Es schien ein skandinavischer Wintertag zu werden.
»Warum hast du diese Ruth Wiechert dazugeholt?«, fragte Salomon ohne Umschweife. Seine Stimme klang ruhig, doch sie spürte die unterdrückte Wut. »Sie nervt, und sie ist unberechenbar. Bei unserem letzten Einsatz hat sie lebensgefährlichen Mist gebaut.«
»Das haben wir alle«, entgegnete Lydia ebenso ruhig. »Aber wenn dir meine Entscheidung nicht passt, kannst du dich ja bei Weynrath beschweren.«
Sie wandte sich ab und schnappte sich ihre Unterlagen. An der Tür drehte sie sich um. »Was ist, kommst du mit in die Rechtsmedizin oder nicht?«
Salomon starrte sie wortlos an, zuckte mit den Schultern und folgte ihr. Sie wusste, dass sie unfair war, aber sie hatte keine Lust, sich zu rechtfertigen. Auch nicht vor Salomon. Nur weil sie sich halbwegs zusammengerauft hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie jetzt beste Freunde waren.
»Wo ist Leonie? Müsste sie nicht längst auf dem Weg zur Schule sein?« Olaf Schwarzbach faltete die Zeitung zusammen und blickte seine Frau an, die soeben die Küche betreten hatte. Er sah, wie sie kaum merklich zusammenzuckte. Ihre Antwort kannte er bereits, bevor sie sie aussprach.
»Sie fühlt sich nicht wohl«, sagte Melanie Schwarzbach leise. »Sie hat Bauchschmerzen. Ich habe ihr gesagt, dass sie erst einmal im Bett bleiben soll.« Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, als erwarte sie einen Schlag. »Vielleicht geht es ihr ja später wieder gut«, fügte sie rasch hinzu.
Olaf warf die Zeitung auf den Tisch. »Ich dachte, in letzter Zeit wäre es besser geworden!« Er ließ den Satz wie eine Anklage in der Luft hängen.
Melanie zuckte mit den Schultern. Sie sah müde und verbraucht aus. Es gab eine Zeit, da
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