Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
wäre er in einem solchen Augenblick aufgestanden und hätte sie in den Arm genommen. Hätte ihr versichert, dass sie das schaffen würden. Gemeinsam. Aber das brachte er nicht mehr über sich. Es wäre verlogen gewesen, und er hätte sich vor sich selbst geekelt.
»Das dachte ich auch«, sagte sie. Ein leichtes Zittern in ihrer Stimme verriet, dass sie kurz davorstand, in Tränen auszubrechen. »Ich weiß nicht, was es diesmal ist. Aber es geht ihr wirklich nicht gut. Sie ist ganz blass. Wenn es morgen nicht besser ist, gehe ich noch einmal mit ihr zum Arzt.«
Olaf seufzte. »Kannst du trotzdem arbeiten? Es ist einiges liegen geblieben von letzter Woche.«
Olaf Schwarzbach leitete ein kleines Umzugsunternehmen, für das Melanie die Büroarbeit erledigte. Die Einnahmen reichten kaum aus, die drei Mitarbeiter zu bezahlen und die Familie zu ernähren. Früher war das anders gewesen. Da waren sie mehrmals im Jahr in Urlaub gefahren, Melanie hatte sich teure Kleider gekauft, und er hatte immer den neuesten Benz gefahren. Früher war einiges anders gewesen.
»Ja, natürlich kann ich arbeiten«, antwortete sie rasch. »Ich komme nach, sobald ich hier fertig bin.« Sie schien erleichtert über den Themenwechsel.
Olaf sah sie an, fragte sich, wie so oft, was schiefgegangen war, warum ihr gemeinsames Leben immer mehr den Bach hinunterging. Was los war mit ihm und mit Melanie. Mit Leonie. Seit Jahren kränkelte ihre Tochter. Sie litt unter rätselhaften Bauchschmerzen, Unterleibskrämpfen, Schwindelanfällen. Trotz unzähliger Untersuchungen hatte ihr bisher kein Arzt helfen können. Früher hatten Olaf und Melanie sich die Sorge um ihre Tochter geteilt. Hatten abwechselnd an ihrem Bett gewacht, wenn sie fieberte, waren mit ihr ins Krankenhaus gefahren, wenn es schlimmer wurde. Doch in letzter Zeit hatte sich eine furchtbare, lähmende Angst wie ein Keil zwischen ihn und seine Frau geschoben. Nicht die Angst um Leonie. Eine andere, viel schlimmere Angst, die im Begriff war, die ganze Familie zu verschlingen.
Olaf sah zu, wie Melanie hastig den Küchentisch abräumte. Ihre Bewegungen waren fahrig, sie war nicht bei der Sache.
Während sie das Geschirr in die Spülmaschine stellte, fragte sie, ohne sich umzudrehen: »Rufst du in der Schule an, bitte?«
»Warum machst du das nicht selbst?«, fuhr er sie an, zu müde und zu resigniert, um sich zu verstellen.
Sie hielt inne, wandte sich aber nicht um. Aus der Tasse, die sie gerade hatte einräumen wollen, tropfte ein Rest Kaffee auf den Küchenboden. »Du weißt doch, wie schnippisch diese Frau Schneider aus dem Sekretariat ist. Ich kann das heute nicht ertragen. Bei dir wagt sie es nicht, den Mund so aufzureißen.«
Olaf stand wortlos auf.
»Die Nummer liegt neben dem Telefon«, rief seine Frau ihm hinterher, als er schon auf dem Weg ins Wohnzimmer war. Als wenn er das nicht wüsste. Als wenn er sie nicht auswendig aufsagen könnte.
Er schloss die Tür hinter sich und holte tief Luft. Der Raum erfüllte ihn mit Beklemmung, er fröstelte, doch das lag nicht an dem Eisregen, der gegen die Fensterscheiben prasselte. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu der kleinen Kommode am anderen Ende des Zimmers. Zu dem Foto, das darauf stand und das ein ernst blickendes blondes Mädchen zeigte, die Haare streng zurückgekämmt, die Wangen schmal. Sie war kaum älter als vier, doch ihr Gesicht strahlte eine beinahe unheimliche vorzeitige Reife aus. Neben das Foto hatte Melanie wie immer einen Strauß frischer weißer Nelken platziert, davor eine Kerze.
Olaf starrte auf das blasse Kindergesicht, und der Verdacht, der ihn seit Wochen in Angst versetzte, ergriff schlagartig mit solcher Macht Besitz von ihm, dass ihm der Atem wegblieb.
3
Auf dem Hennekamp stockte der Verkehr, und Lydia trommelte nervös auf das Lenkrad. Chris fragte sich, was wohl in ihrem Kopf vorging, ob sie an das tote Mädchen dachte, an den Fall oder einfach nur daran, dass die Wischblätter dringend ausgetauscht werden mussten. Glücklicherweise hatte der Regen nachgelassen, und halbwegs hell war es inzwischen auch, sodass man durch die Windschutzscheibe wieder etwas sehen konnte. Lydia war allerdings auch vorhin, als die Sichtverhältnisse miserabel waren, durch die Straßen gebrettert, als wäre sie eine Fledermaus und nicht auf ihre Augen angewiesen, um sich zurechtzufinden.
Sie kamen von der Rechtsmedizin und waren auf dem Weg zu Tonis Eltern, um sie noch einmal zu befragen. Das, was sie im Sektionssaal
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