Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
seiner Tochter zu tun haben.« Sie sah den Kollegen an. »Schröder, vielleicht könntest du damit anfangen, kurz zusammenzufassen, was ihr über den Kerl wisst?«
»Klar.« Heinz Schröder schob seinen Kaffeebecher zur Seite und öffnete eine dünne Mappe. »So richtig viel gibt es da leider nicht«, begann er in breitem Rheinländisch, das seine äußere Erscheinung auf sympathische Weise abrundete. »Oder besser gesagt: Wir haben unwahrscheinlich viele Zeugenaussagen, aber nichts von Substanz. Das erste Mal ist der Mann offensichtlich am dreizehnten Juni in Erscheinung getreten, da ist zumindest die erste Anzeige bei uns eingegangen. Danach kamen so im Zwei-Wochen-Rhythmus neue Meldungen. Den Beschreibungen der Opfer nach ist er äußerst wandelbar: zwischen einem Meter fünfundsechzig und einem Meter fünfundachtzig groß, glatt rasiert, zumindest laut der Mehrzahl der Aussagen, mal ziemlich jung, mal eher alt. Keine besonderen Merkmale. Manche haben ihn als korpulent beschrieben, andere als sehr schlank. Ein Phantombild konnte bisher nicht erstellt werden.«
»Warum nicht?«, fragte Ruth Wiechert dazwischen. »War er maskiert?«
»Keineswegs«, erwiderte Schröder. »Aber keine Frau hat sich gut genug an das Gesicht erinnert. Du hast ja gehört, wie die Beschreibungen sich widersprechen.«
»Ist ja auch naheliegend, die hatten ihre Augen woanders«, bemerkte Reinhold Meier. »Wer will es ihnen verdenken?«
»Meier!«, stieß Lydia warnend hervor.
»Da ist vermutlich was dran«, meinte Schröder, ohne sich um Lydias Einwurf zu scheren. »Jedenfalls haben wir keine brauchbare Täterbeschreibung. Interessant ist allenfalls die Kleidung. Langer heller Mantel, vermutlich eine Art Trenchcoat, und grüne Gummistiefel. Sonst nichts.«
»So einer muss doch auffallen«, wunderte sich Gerd Köster und rückte seine Brille zurecht. »Ein Mann in Trenchcoat und Gummistiefeln. Selbst wenn er einfach die Straße entlangläuft. Vor allem im Juni.«
»Das meinen wir auch«, antwortete Schröder. »Aber bisher wurde er immer nur von den betroffenen Frauen gemeldet. Dabei hängen seit September überall in der Gegend Zettel mit einer Beschreibung der Kleidung. Wir vermuten, dass er ganz in der Nähe wohnt. Deshalb fügt er sich so gut in seine Umgebung ein. Das ist kein Fremder, sondern ein Nachbar. Nicht einer, den die Leute bemerken, sondern einer, der ein paar Straßen weiter wohnt, nah genug, um sich auszukennen, aber weit genug weg, um nicht aufzufallen.«
»Was genau tut er?«, fragte Salomon.
»Er stellt sich vor die Frau, öffnet seinen Mantel und spielt ein bisschen an sich herum. Wie weit er dabei geht, hängt offenbar von der Reaktion seines Opfers ab. Wenn die Frauen wegrennen oder schreien, haut er schnell wieder ab. Wenn sie ihn bloß anstarren, masturbiert er vor ihren Augen.«
»Das ist ja widerlich!«, stieß Wiechert hervor.
»Es muss ja keine zugucken«, bemerkte Erik Schmiedel. »Offenbar verzieht er sich ja, wenn er auf Desinteresse stößt.«
»Und damit ist das entschuldigt?«, fuhr Ruth Wiechert ihn an.
»Das reicht«, sagte Lydia. Ruths weinerliche Art ging ihr auf die Nerven, auch wenn sie ihrer Meinung war. »Hat er jemals eine Frau angefasst oder bedroht?«
»Nicht dass wir wüssten. Er ist nie handgreiflich geworden. Er hat auch nie etwas zu den Frauen gesagt.«
»Wann war der letzte Vorfall dieser Art?«
»Vor etwa zehn Tagen, glaube ich.« Schröder blätterte in seinen Unterlagen. »Ja, am sechsundzwanzigsten November. Da hat er einer Frau Melkhorst im Wintergarten aufgelauert.«
»Im Wintergarten?«, rief Salomon. »Das heißt, er ist ins Haus eingedrungen?«
Schröder nickte. »In gewisser Weise, ja. Die Tür zum Garten stand offen. Frau Melkhorst war hinausgegangen, um ein paar Astern zu schneiden. Als sie zurückkam, stand er im Wintergarten. Wir nehmen an, dass das mit der Jahreszeit zu tun hat.«
»Es ist ihm zu kalt?« Meier lachte.
»Daran dachten wir weniger. Es gibt zu wenig Grün. Die Gärten sind zu gut einsehbar. Kurz zuvor hatte er sich schon einmal in eine Garage geschlichen. Die Frau hat ihn für einen Einbrecher gehalten und direkt den Notruf gewählt. Erst bei der Befragung hinterher hat sich herausgestellt, dass es vermutlich unser Mann war. Er trug Trenchcoat und Gummistiefel, nicht gerade das ideale Einbrecher-Outfit.«
Lydia malte Schlangenlinien auf ihren Block, um sich besser konzentrieren zu können. »Eine Frage noch, Schröder: Wie alt sind seine
Weitere Kostenlose Bücher