Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
selbst. Dieser Fall brachte Salomon an seine Grenzen. Wie jagte man den Mörder eines Mädchens, wenn das Schicksal der eigenen Tochter ungeklärt war? Wenn man nicht wusste, ob sie tot war oder lebte, vielleicht von einem brutalen Monster gefangen gehalten wurde und jeden Tag Höllenqualen leiden musste?
Eine halbe Stunde später gingen sie zurück zu Lydias Toyota. Vor dem Haus war inzwischen Ruhe eingekehrt. Der Notarzt, der Leichenwagen und die Streifen waren verschwunden, lediglich Spuntes Kastenwagen parkte noch bei den Nachbarn. Beim Auto blieb Salomon stehen. Er starrte die Straße hinunter, an deren Ende die kahlen Bäume des Eller Forstes schwarz in den Nachthimmel aufragten. Lydia folgte seinem Blick und fröstelte. Noch keine drei Monate war es her, dass sie beide in diesem Wald beinahe gestorben wären. Es war ihr erster gemeinsamer Fall gewesen, sie hatten sich gegenseitig nicht ausstehen können. Lydia war fest entschlossen gewesen, diesen Paul-Newman-Verschnitt so schnell wie möglich wieder loszuwerden, den ihr Chef ihr gegen jede Absprache zur Seite gestellt hatte. Und auch Salomon war von seiner neuen Partnerin alles andere als angetan. Sie hatten mehr gegeneinander als miteinander ermittelt. Beide hatten sie Fehler gemacht. Am schlimmsten war, dass sie sich nicht vertraut hatten, was in diesem Wald beinahe zur Katastrophe geführt hätte.
Es gab eine Untersuchung. Doch da der einzige Zeuge der Mörder war, der beharrlich schwieg, nahm man ihnen notgedrungen ihre Version der Ereignisse ab. Salomon lag zwei Wochen im Krankenhaus und rang mit dem Tod. Vier Wochen später trat er wieder zum Dienst an. Weynrath, ihr Chef, hatte sie beide seither mit Routinefällen bedacht, bei denen der Täter geständig war oder die Beweislage so eindeutig, dass keine aufwändigen Ermittlungen nötig waren. Sie hatten fast nur am Schreibtisch gesessen und Akten durchgearbeitet. Und sie hatten sich damit abgefunden, dass das noch eine Weile so weitergehen würde. Weynraths Methode, sich dafür zu rächen, dass er ihnen nichts nachweisen konnte.
Und jetzt dieser komplizierte Fall. Hatte Weynrath sich verschätzt? Hatten sie ihre Strafe abgebüßt? Oder hatte ihr Chef seine eigenen Gründe, warum er sie gerade auf diesen Fall ansetzte? Bei ihm wusste man nie. Er war ein cholerischer, kleiner dicker Mann mit vielen Gesichtern.
Lydia sah zu Salomon, der seinen Blick von den Baumkronen in der Ferne abwandte.
»Glaubst du, dass es Orte gibt, auf denen ein Fluch liegt?«, fragte er.
»Quatsch!«, stieß sie hervor. »Steig ein, es gibt Arbeit.«
2
Mittwoch, 5. Dezember
Eisiger, halb gefrorener Regen pladderte gegen die Fenster, als sich die »Moko Toni« am nächsten Morgen zur Besprechung traf. Es war noch dunkel draußen, so als wäre es mitten in der Nacht. Lydia blickte in die Runde. Der alte Gerd Köster, ihr Freund und Mentor, führte wie immer die Akte. Das unzertrennliche Duo Reinhold Meier und Erik Schmiedel würde sich ständig bekabbeln, aber gute Arbeit leisten. Ingo Wirtz war ein stiller, zuverlässiger Zeitgenosse, über den sie immer noch nicht viel wusste, und Ruth Wiechert war die Zitterpartie. Sie schoss gelegentlich über das Ziel hinaus, war launisch und schnell beleidigt, aber sie engagierte sich mehr als jeder andere, wenn es darauf ankam. Lydia wusste, dass Salomon nicht gut auf die Kollegin zu sprechen war. Sie hatte sich bei ihrem ersten gemeinsamen Fall einen üblen Fehler geleistet, aber das interessierte Lydia im Augenblick nicht. Sie wollte Ruth Wiechert dabeihaben. Dem Letzten in der Runde war sie heute zum ersten Mal begegnet. Sie wusste kaum mehr über ihn als seinen Namen und hoffte, dass er nicht querschießen würde.
»Morgen, Leute«, begann sie. »Schön, dass ihr alle pünktlich da seid. Und wie ich sehe, hat auch jemand für Kaffee gesorgt.« Sie blickte auf die dampfenden Becher. »Ihr kennt euch ja untereinander. Für die, die es nicht wissen: Das ist Heinz Schröder vom KK 12.« Sie deutete auf den großen, breitschultrigen Mann mit dem verlebten Gesicht, den sie erst vor wenigen Minuten kennengelernt hatte. »Da wir es hier, zumindest dem ersten Anschein nach, mit einem Sexualdelikt zu tun haben, habe ich ihn dazu gebeten. Er hat bisher an dem Fall mit dem unbekannten Exhibitionisten gearbeitet, der seit ein paar Monaten in Vennhausen sein Unwesen treibt. Der Vater des toten Mädchens, Michael Bruckmann, hat gestern Abend den Verdacht geäußert, er könne etwas mit dem Tod
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