Die Welfenkaiserin
alles anders und schöner gekommen.
Vor einem Vierteljahrhundert hatte Irmingard Rache geschworen und sich dazu der Hilfe unzähliger Menschen bedient, die allesamt gescheitert waren. Jetzt endlich wollte sie die Sache selbst in die Hand nehmen.
Als reisende Pilger verkleidet, trafen Ruadbern und Judith pünktlich zum Weihnachtsfest auf Arnes Hof ein. Sie genossen die Wärme, die man ihnen dort entgegenbrachte, doch nach wenigen Tagen war es gerade diese Wärme, die Judith wieder Abschied nehmen ließ. In ihrer Erinnerung war auf Arnes Hof ewiger Sommer gewesen, in diesem Winter aber herrschte draußen ungewöhnlich eisige Kälte, die ein Zusammenrücken im Haus erforderlich machte. Die neunköpfige Familie schlief jetzt um den Herd im Wohnraum, wo man für Judith ein kleines Eckchen mit einem Vorhang abgeteilt hatte. Eine derart körperliche Nähe zu so vielen Menschen war sie nicht mehr gewohnt. Sie störte sich an den Geräuschen, die den schlafenden Leibern entwichen, und in der stickigen, verräucherten Luft fiel ihr das Atmen schwer. Zudem fehlte ihr eine besondere Nähe; die zu Ruadbern, der sich mit dem nach ihm benannten Sohn das Lager teilte.
»Ludwig hat mir vor Jahren Güter in Tours überschrieben, damals, als meine Dos San Salvatore im italischen Brescia Irmingard übertragen wurde«, sagte sie zu Ruadbern, als sie Anfang Januar trotz dichten Schneetreibens zum Luftholen auf den Hof gingen. »Wo steht denn geschrieben, dass eine Kaiserinwitwe zwangsläufig Äbtissin werden muss? Wenn mir Karl diesen Besitz nicht auch noch abgenommen hat, können wir dort in einer Villa wohnen.«
Zum ersten Mal seit ihrer überstürzten Abreise aus Quierzy erwähnte sie den Namen ihres Sohnes.
»Zusammen?«, fragte Ruadbern mit hochgezogenen Augenbrauen.
Judith presste ihren dick verpackten Körper an seinen.
»Natürlich! Ich möchte mich nie mehr von dir trennen, mein getreuer Edelknecht, der einzige Mensch, der mir verblieben ist.« Sie sah ihn eindringlich an und fragte leise: »Könntest du dir vorstellen, eine ziemlich alte und mittellose ehemalige Kaiserin zu heiraten?«
»Ich fürchtete schon, du würdest mich das nie fragen«, versetzte er und beugte sich zu ihr hinab.
»Entschuldigung«, sagte Anna erschrocken, als sie die Tür öffnete und das Paar in inniger Umarmung vorfand. Mit strahlenden Augen wandte sich Judith ihr zu. »Mir geht es, wie es einst dir ergangen ist, Anna: Ich glaubte, alles verloren zu haben, und habe doch das Wichtigste gewonnen.«
Vor den erstaunten Augen ihrer einstigen Näherin, der Frau, die sie bei einem der unzähligen Feldzüge in einer Köhlerhütte im Wald gefunden hatten, küsste sie Ruadbern mitten auf den Mund.
»Wir werden heiraten!«
In dieser Nacht schlief Ruadbern ebenfalls hinter dem Vorhang, und am nächsten Tag brach das Paar Richtung Tours auf. Judith hatte den Wunsch geäußert, den ehelichen Bund ohne Aufsehen in der Kirche der Abtei Sankt Martin segnen zu lassen.
»Was? Sie will wieder heiraten?«, fuhr Irmingard empört ihren Späher an. »Ihren eigenen Neffen?«
»Er war der uneheliche Neffe Kaiser Ludwigs, Herrin«, stotterte der Späher, »und ist somit nicht mit ihr verwandt.«
»Dennoch ist es ausgesucht geschmacklos. Eine alte Hexe, die einmal Kaiserin war, und ein junger Niemand. Kaiser Ludwig würde sich in seinem Grab umdrehen. Nun ja, jeder weiß, dass er damals die falsche Wahl getroffen und dies später bitterlich bereut hat.«
»Gewiss, Herrin«, antwortete der Späher, der keine Ahnung hatte, wovon sie sprach.
Irmingard trat an ihr Pult, verfasste eine kurze Mitteilung und überreichte sie dem Späher.
»Sieh zu, dass sie diesen Brief erhält.«
»Soll sie wissen, von wem er stammt?«, fragte der Späher unsicher.
»Unbedingt.«
»Das Leben ist schön!«, rief Judith ausgelassen, als Ruadbern am Abend die gemeinsame Schlafkammer der Villa betrat, die ihr vermutlich nur deswegen noch gehörte, weil Karls stümperhafte Berater vergessen hatten, sie bei der Aufzeichnung von Judiths Habe zu erwähnen. Mit gelöstem Haar und nur mit einer dünnen Tunika bekleidet, lag sie auf dem Bett und schwenkte fröhlich ein kleines Stück Pergament.
»Welch freudige Nachricht hat dich denn erreicht, meine geliebte Judi?«, fragte er zerstreut, nachdem er sie geküsst hatte. Den ganzen Tag über hatte er in der Abtei alte Schriften Abt Alkuins studiert. Die wollte er sich zum Vorbild für das Werk nehmen, an dem er selbst arbeitete, eine
Weitere Kostenlose Bücher