Die Welfenkaiserin
gelegentlich seltsame Formen an. Wusstest du, dass Karl der Große vor genau siebzig Jahren seine Mutter Bertrada ebenfalls verstoßen hat?«
Judith schüttelte den Kopf.
»Und jetzt verstößt Karl der Kahle seine Mutter.«
»Ich mag es nicht, wenn du ihn so nennst.«
»Versöhn dich mit der Wirklichkeit, Judi, jeder nennt ihn so. Und er ist klug genug, diesen Beinamen mit Stolz zu tragen.«
»Er hat seine schönen dichten Haare abgeschoren«, sagte sie und begann zu weinen, als wäre Karls Verlust der Haartracht ihre größte Sorge.
»Auch das war klug. So erkennt ihn jeder schon von Weitem. Und die Zeit der langhaarigen Könige ist doch längst vorbei.«
»Kommst du mit hinein?« Sie waren vor der Tür ihrer Kammer angelangt.
Ruadbern schüttelte den Kopf und küsste sie sanft auf den Mund.
»Lieber nicht. Ich bereite jetzt alles für die Reise vor.«
»Welche Reise?«
»Deine und meine, Judi. Ich möchte dich um mich haben. Und bevor dich dein Sohn in irgendein Kloster verbannt, reisen wir lieber ab und bestimmen unseren Aufenthaltsort selbst. Übermorgen, nach der Hochzeit. Wohin möchtest du als Erstes?«
»Zu Arne und Anna«, sagte sie, ohne nachzudenken. Ein Ort, an dem etwas wuchs und gedieh, wo man die Früchte erntete, die man gesät hatte. Wo die Menschen liebevoll miteinander umgingen.
Am Hochzeitstag Karls des Kahlen sah niemand der Königinmutter ihren Kummer an. Sie nickte den Gästen huldvoll zu, lächelte ihre Schwiegertochter warmherzig an, begrüßte jeden der Geladenen mit einem freundlichen persönlichen Wort und trug gar selbst ein Stück auf dem Psalterium vor. Sie plauderte artig, versicherte, hocherfreut über die Wahl ihres Sohnes zu sein, und überspielte geschickt und würdevoll Karls unverblümt zur Schau gestellte Abneigung ihr gegenüber. Auf ihrem Goldhaar, das nur von wenigen weißen Strähnen durchzogen war, saß eine hohe blaue Haube, die ihren Saphiraugen stärkeren Glanz verlieh, und ihr hochgeschlossenes Gewand umschmiegte eine jugendliche Figur. Trotz ihres Alters hätte sie sich rühmen können, immer noch die Schönste im Saal zu sein. Was Anlass zu einigem Getuschel unter den von der Natur weniger begünstigten Frauen gab. Sie lasse eben von ihrer Zauberkunst nicht ab, benutze Hexensalbe und habe den Pakt der ewigen Jugend mit dem Teufel geschlossen, wurde gewispert. Der Sohn tue gut daran, sich von ihr abzuwenden.
Als sich Judiths Tochter Gisela bissig erkundigte, ob die Mutter gedenke, der kürzlich verstorbenen Heilwig als Äbtissin von Chelles nachzufolgen, hätte die Königinmutter beinahe ihrem schwelenden Unmut Luft gemacht. Aber sie riss sich zusammen, schüttelte verneinend den Kopf und wandte sich ihrem Nachbarn Gottfried zu, dem Sohn des Harald Klak.
Sein Vater sende herzliche Grüße, sagte der junge Mann und setzte spöttisch hinzu: »Er kann nicht anwesend sein, weil er ja unsere Verwandten von der Küste Walcherens vertreiben muss, der Arme.«
»Er schützt christliche Länder«, erwiderte Judith empört. Auf Harald Klak wollte sie nichts kommen lassen, schon gar nicht von seinem Sohn. Kinder hatten gefälligst ihre Eltern zu ehren!
»Er hätte lieber sein eigenes Königreich, mein Erbe, schützen sollen«, entgegnete Gottfried ungerührt. »Warum hat er sich von seinem Bruder vertreiben lassen? Ich habe meinen Oheim König Horik bereits wissen lassen, dass ich Ansprüche anmelde. Notfalls erobere ich mir mit Waffengewalt den Dänenthron zurück.«
»Darin wird dir mein Sohn gewiss nicht beistehen«, bemerkte Judith scharf.
»Dein Sohn, mein Bruder«, mischte sich Gisela ins Gespräch ein, »trifft, wie ich höre, ab jetzt seine eigenen Entscheidungen und lässt sich von dir endlich nicht mehr dareinreden.«
Ihre kalte laute Stimme ließ alle Gespräche in der Nähe verstummen. Hemma, die Königin von Bayern und Schwester der Königinmutter, richtete ihre tanzenden Augen auf Judith und vergaß, in den Hühnerschenkel zu beißen, den sie zum Mund geführt hatte. Die Harfenspieler legten eine Pause ein, und die Gaukler, die sich an der Tür versammelt hatten, rückten näher an die erhabene Tafel heran, als warteten sie auf das Zeichen zum Possenreißen. Karl der Kahle, der seiner mageren Gemahlin ein Stück schmalztriefendes Gänsefleisch in den Mund gesteckt hatte, sah seine Mutter an. Judith erschauerte, als sie in zwei tiefgefrorene Teiche blickte.
»Was übrigens deinen Schmuck angeht, Mutter«, bemerkte er freundlich, während er seine
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