Die Welfenkaiserin
Geschichte über die Regierungszeit Kaiser Ludwigs, dessen Auseinandersetzung mit seinen Söhnen und deren blutige Abrechnung miteinander. Er hatte alles aus nächster Nähe miterlebt, ohne selbst in die Kämpfe und Streitereien verwickelt worden zu sein, und er hielt es für seine Pflicht, aus leidenschaftsloser Perspektive der Nachwelt mitzuteilen, was wirklich geschehen war. Es durfte nicht sein, dass sich künftige Generationen nur aus den bösen Schriften Agobard von Lyons, den einseitigen Darstellungen Nithards, des Sohnes der Karlstochter Berta, und den lyrischen Ergüssen Walahfrid Strabos ein Bild über diese Epoche machten. Ruadbern vertiefte sich in alte griechische Mythen und schmunzelte bitter, als ihm einfiel, wie sich die einstigen Merowingerkönige nicht nur für leibliche Nachfahren Jesu gehalten hatten, sondern ihre Abstammung auf das Königshaus von Troja zurückführten. Bis auf Aeneas, den angeblichen Stammvater, war dieses vom Griechenkönig Agamemnon vernichtet worden. Dessen Familientragödie hatten wiederum zahlreiche Dichter besungen; dabei nahm sie sich neben jener, die das Haus der Karolinger auseinandergerissen hatte, vergleichsweise harmlos aus.
»Irmingard will ihren Frieden mit mir machen, stell dir vor!«, rief Judith, setzte sich auf und schlang die Arme um den jungen Mann, der bereit war, aus reiner, unverrückbarer Liebe eine fünfzehn Jahre ältere und besitzlose einstige Kaiserin zu heiraten.
Ruadbern zog sie liebevoll an sich und nahm ihr dann die Schrift aus der Hand.
Liebe einstige Freundin und langjährige Gegnerin, las er laut vor. Es ist Zeit, die Streitaxt und die Vergangenheit zu begraben. Wir haben beide genug gelitten und sollten unseren Frieden miteinander machen. Wenn du dazu bereit bist, würde ich mich freuen, dich morgen in meinem Haus herzlich zu begrüßen. Irmingard.
»Sie hat sich bei der Unterschrift sogar die Kaiserin erspart, ist das nicht rücksichtsvoll?«, fragte Judith lachend.
Ruadbern hob die dichten dunklen Augenbrauen, durch die sich bereits einige wenige weiße Haare zogen.
»Es könnte eine Falle sein«, warnte er.
»Unsinn!«, rief Judith. »Weshalb sollte sie mir eine Falle stellen? Ich bin jetzt ein Niemand, kann nichts bewirken und ihr nicht mehr schaden.«
»Der Mönch, der Niemand hieß, hat einiges bewirkt«, erinnerte sie Ruadbern. »Ich traue dieser Frau nicht. Geh lieber nicht hin.«
»Du kennst Irmingard nicht so gut wie ich«, versetzte Judith. »Sie ist zwar Kaiserin, übt aber nicht die geringste Macht aus und muss zusehen, wie ihr Mann sie mit einer Unfreien betrügt. Das ist sehr demütigend, und deshalb hat sie sich in ihres Vaters Gebiet verkrochen. Und jetzt langweilt sie sich sicher hier und hofft, dass ich Abwechslung in ihr Leben bringe. Außerdem …«, sie strich Ruadbern zärtlich ein paar lange Haarsträhnen aus dem Gesicht, »… werden auch wir künftig hier leben und können einander auf Dauer nicht aus dem Weg gehen. Es gibt nichts und niemanden mehr, um das oder um den wir uns streiten können. Ich möchte meinen Frieden mit ihr machen. Alles soll ein gutes Ende finden.«
Sie sah sich in ihrer Auffassung bestätigt, als sie am nächsten Tag bei Irmingard vorsprach. Nichts erinnerte mehr an das keifende Weib, das sie einst beschimpft und verflucht hatte. Irmingard empfing sie mit einer Umarmung in ihrem Privatgemach, bot ihr Wein, in Met getränkte Früchte und ihre Freundschaft an. Sie vermieden Gespräche über Ludwig, Bernhard, Irmingards Vater oder Lothar und sparten jedes Thema aus, das in der anderen Unbehagen auslösen könnte. Sie lachten über Anekdoten, die ihnen von außen zugetragen worden waren, und gedachten einiger gemeinsamer inzwischen verstorbener Bekannter, wie zum Beispiel Einhards. Judith erzählte von ihren Abenteuern beim Raub der Heiligengebeine in Rom, und Irmingard gestand ihr, wie wenig wohl sie sich in Italien gefühlt hatte, wie sehr sie ihre Kinder vermisste und wie doppelzüngig doch Lothar war. Sie schieden als Freundinnen mit dem Versprechen eines baldigen Wiedersehens. Zum Zeichen ihrer Hochachtung und ihres Wohlwollens überreichte ihr Irmingard zum Abschied ein Geschenk.
»Es steht dir zu, teuerste Freundin«, sagte sie, als sie Judith auf die Wange küsste und ihr ein dickes Paket in die Hände drückte. »Ein Stück des berühmten Planetentisches von Karl dem Großen.«
»Den Lothar zerschlagen hat?«, fragte Judith.
Irmingard zuckte mit den Schultern.
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