Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
nicht vorherwissen, so ist uns auch keine Einsicht a priori in diesen gegeben; sondern nur a posteriori , durch die Erfahrung, lernen wir, wie die Andern, so auch uns selbst kennen. Brachte der intelligible Charakter es mit sich, daß wir einen guten Entschluß nur nach langem Kampf gegen eine böse Neigung fassen konnten; so muß dieser Kampf vorhergehn und abgewartet werden. Die Reflexion über die Unveränderlichkeit des Charakters, über die Einheit der Quelle, aus welcher alle unsere Thaten fließen, darf uns nicht verleiten, zu Gunsten des einen noch des andern Theiles, der Entscheidung des Charakters vorzugreifen: am erfolgenden Entschluß werden wir sehn, welcher Art wir sind, und uns an unsern Thaten spiegeln. Hieraus eben erklärt sich die Befriedigung, oder die Seelenangst, mit der wir auf den zurückgelegten Lebensweg zurücksehn: Beide kommen nicht daher, daß jene vergangenen Thaten noch ein Daseyn hätten: sie sind vergangen, gewesen und jetzt nichts mehr; aber ihre große Wichtigkeit für uns kommt aus ihrer Bedeutung, kommt daher, daß diese Thaten der Abdruck des Charakters, der Spiegel des Willens sind, in welchen schauend wir unser Innerstes Selbst, den Kern unsers Willens erkennen. Weil wir dies also nicht vorher, sondern erst nachher erfahren, kommt es uns zu, in der Zeit zu streben und zu kämpfen, eben damit das Bild, welches wir durch unsere Thaten wirken, so ausfalle, daß sein Anblick uns möglichst beruhige, nicht beängstige. Die Bedeutung aber solcher Beruhigung, oder Seelenangst, wird, wie gesagt, weiter unten untersucht werden. Hieher gehört hingegen noch folgende für sich bestehende Betrachtung.
Neben dem intelligibeln und dem empirischen Charakter ist noch ein drittes, von beiden Verschiedenes zu erwähnen, der erworbene Charakter , den man erst im Leben, durch den Weltgebrauch, erhält, und von dem die Rede ist, wenn man gelobt wird als ein Mensch, der Charakter hat, oder getadelt als charakterlos. – Zwar könnte man meinen, daß, da der empirische Charakter, als Erscheinung des intelligibeln, unveränderlich und, wie jede Naturerscheinung, in sich konsequent ist, auch der Mensch eben deshalb immer sich selbst gleich und konsequent erscheinen müßte und daher nicht nöthig hätte, durch Erfahrung und Nachdenken, sich künstlich einen Charakter zu erwerben. Dem ist aber anders, und wiewohl man immer der Selbe ist, so versteht man jedoch sich selbst nicht jederzeit, sondern verkennt sich oft, bis man die eigentliche Selbstkenntniß in gewissem Grade erworben hat. Der empirische Chrakter ist, als bloßer Naturtrieb, an sich unvernünftig: ja, seine Aeußerungen werden noch dazu durch die Vernunft gestört, und zwar um so mehr, je mehr Besonnenheit und Denkkraft der Mensch hat. Denn diese halten ihm immer vor, was dem Menschen überhaupt , als Gattungscharakter, zukommt und im Wollen, wie im Leisten, demselben möglich ist. Hiedurch wird ihm die Einsicht in Dasjenige, was allein von dem Allen er, vermöge seiner Individualität, will und vermag, erschwert. Er findet in sich zu allen, noch so verschiedenen menschlichen Anstrebungen und Kräften die Anlagen; aber der verschiedene Grad derselben in seiner Individualität wird ihm nicht ohne Erfahrung klar: und wenn er nun zwar zu den Bestrebungen greift, die seinem Charakter allein gemäß sind, so fühlt er doch, besonders in einzelnen Momenten und Stimmungen, die Anregung zu gerade entgegengesetzten, damit unvereinbaren, die, wenn er jenen ersteren ungestört nachgehn will, ganz unterdrückt werden müssen. Denn, wie unser physischer Weg auf der Erde immer nur eine Linie, keine Fläche ist; so müssen wir im Leben, wenn wir Eines ergreifen und besitzen wollen, unzähliges Anderes, rechts und links, entsagend, liegen lassen. Können wir uns dazu nicht entschließen, sondern greifen, wie Kinder auf dem Jahrmarkt, nach Allem was uns im Vorübergehn reizt; dann ist dies das verkehrte Bestreben, die Linie unsers Wegs in eine Fläche zu verwandeln: wir laufen sodann im Zickzack, irrlichterliren hin und her und gelangen zu nichts. – Oder, um ein anderes Gleichniß zu gebrauchen, wie, nach Hobbes' Rechtslehre, ursprünglich Jeder auf jedes Ding ein Recht hat, aber auf keines ein ausschließliches; letzteres jedoch auf einzelne Dinge erlangen kann, dadurch, daß er seinem Recht auf alle übrigen entsagt, wogegen die Andern in Hinsicht auf das von ihm erwählte das gleiche thun; gerade so ist es im Leben, wo wir irgend eine bestimmte
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