Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
schöpfte, gewann und Andern gewonnen und bereitet darlegte, kann dennoch nicht sofort das Eigenthum der Menschheit werden; weil diese nicht ein Mal so viel Kraft zum Empfangen hat, wie jener zum Geben. Sondern, selbst nach überstandenem Kampf mit unwürdigen Gegnern, die den Unsterblichen schon bei der Geburt das Leben streitig machen und das Heil der Menschheit im Keime ersticken möchten (der Schlange an der Wiege des Herkules zu vergleichen), muß jene Erkenntniß sodann erst die Umwege unzähliger falscher Auslegungen und schiefer Anwendungen durchwandern, muß die Versuche der Vereinigung mit alten Irrthümern überstehn und so im Kampfe leben, bis ein neues, unbefangenes Geschlecht ihr entgegenwächst, welches allmälig, aus tausend abgeleiteten Kanälen, den Inhalt jener Quelle, schon in der Jugend, theilweise empfängt, nach und nach assimilirt und so der Wohlthat theilhaft wird, welche, von jenem großen Geiste aus, der Menschheit zufließen sollte. So langsam geht die Erziehung des Menschengeschlechts, des schwachen und zugleich widerspänstigen Zöglings des Genius. – So wird auch von Kants Lehre allererst durch die Zeit die ganze Kraft und Wichtigkeit offenbar werden, wann einst der Zeitgeist selbst, durch den Einfluß jener Lehre nach und nach umgestaltet, im Wichtigsten und Innersten verändert, von der Gewalt jenes Riesengeistes lebendiges Zeugniß ablegen wird. Ich hier will aber keineswegs, ihm vermessen vorgreifend, die undankbare Rolle des Kalchas und der Kassandra übernehmen. Nur sei es mir, in Folge des Gesagten, vergönnt, Kants Werke als noch sehr neu zu betrachten, während heut zu Tage Viele sie als schon veraltet ansehn, ja, als abgethan bei Seite gelegt, oder, wie sie sich ausdrücken, hinter sich haben, und Andere, dadurch dreist gemacht, sie gar ignorieren und, mit eiserner Stirn, unter den Voraussetzungen des alten realistischen Dogmatismus und seiner Scholastik, von Gott und der Seele weiterphilosophiren; – welches ist, wie wenn man in der neuem Chemie die Lehren der Alchemisten geltend machen wollte. – Uebrigens bedürfen Kants Werke nicht meiner schwachen Lobrede, sondern werden selbst ewig ihren Meister loben und, wenn vielleicht auch nicht in seinem Buchstaben, doch in seinem Geiste, stets auf Erden leben.
Freilich aber, wenn wir zurückblicken auf den nächsten Erfolg seiner Lehren, also auf die Versuche und Hergänge im Gebiete der Philosophie, während des seitdem verflossenen Zeitraums; so bestätigt sich uns ein sehr niederschlagender Ausspruch Goethes: »Wie das Wasser, das durch ein Schiff verdrängt wird, gleich hinter ihm wieder zusammenstürzt; so schließt sich auch der Irrthum, wenn vorzügliche Geister ihn bei Seite gedrängt und sich Platz gemacht haben, hinter ihnen sehr geschwind wieder naturgemäß zusammen.« (Dichtung und Wahrheit, Theil 3, S. 521.) Jedoch ist dieser Zeitraum nur eine Episode gewesen, die, den oben erwähnten Schicksalen jeder neuen und großen Erkenntniß beizuzählen, jetzt unverkennbar ihrem Ende nahe ist, indem die so anhaltend aufgetriebene Seifenblase doch endlich platzt. Man fängt allgemein an, inne zu werden, daß die wirkliche und ernstliche Philosophie noch da steht, wo Kant sie gelassen hat. Jedenfalls erkenne ich nicht an, daß zwischen ihm und mir irgend etwas in derselben geschehn sei; daher ich unmittelbar an ihn anknüpfe.
Was ich in diesem Anhange zu meinem Werke beabsichtige, ist eigentlich nur eine Rechtfertigung der von mir in demselben dargelegten Lehre, insofern sie in vielen Punkten mit der Kantischen Philosophie nicht übereinstimmt, ja ihr widerspricht. Eine Diskussion hierüber ist aber nothwendig, da offenbar meine Gedankenreihe, so verschieden ihr Inhalt auch von der Kantischen ist, doch durchaus unter dem Einfluß dieser steht, sie nothwendig voraussetzt, von ihr ausgeht, und ich bekenne, das Beste meiner eigenen Entwickelung, nächst dem Eindrucke der anschaulichen Welt, sowohl dem der Werke Kants, als dem der heiligen Schriften der Hindu und dem Plato zu verdanken. – Meine des ungeachtet vorhandenen Widersprüche gegen Kant aber rechtfertigen, kann ich durchaus nur dadurch, daß ich ihn in den selben Punkten des Irrthums zeihe und Fehler, die er begangen, aufdecke. Daher muß ich in diesem Anhange durchaus polemisch gegen Kant verfahren und zwar mit Ernst und mit aller Anstrengung: denn nur so kann es geschehn, daß der Irrthum, welcher Kants Lehre anklebt, sich abschleife, und die Wahrheit derselben
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