Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
wenn ich, durch Bestimmungen, etwas abgränze, ich eben dadurch das jenseit der Gränze Liegende ausschließe und also verneine.
Also an allen Vernünfteleien obiger Art wird recht sichtbar, welche Abwege jener Algebra mit bloßen Begriffen, die keine Anschauung kontrolirt, offen stehn, und daß mithin für unsern Intellekt die Anschauung. Das ist, was für unsern Leib der feste Boden, auf welchem er steht: verlassen wir jene, so ist Alles instabilis tellus, innabilis unda . Man wird dem Belehrenden dieser Auseinandersetzungen und Beispiele die Ausführlichkeit derselben zu Gute halten. Ich habe dadurch den großen, bisher zu wenig beachteten Unterschied, ja, Gegensatz zwischen dem anschauenden und dem abstrakten oder reflektirten Erkennen, dessen Feststellung ein Grundzug meiner Philosophie ist, hervorheben und belegen wollen; da viele Phänomene unsers geistigen Lebens nur aus ihm erklärlich sind. Das verbindende Mittelglied zwischen jenen beiden so verschiedenen Erkenntnißweisen bildet, wie ich § 14 des ersten Bandes dargethan habe, die Urtheilskraft . Zwar ist diese auch auf dem Gebiete des bloß abstrakten Erkennens thätig, wo sie Begriffe nur mit Begriffen vergleicht: daher ist jedes Urtheil, im logischen Sinn dieses Worts, allerdings ein Werk der Urtheilskraft, indem dabei allemal ein engerer Begriff einem weiteren subsumirt wird. Jedoch ist diese Thätigkeit der Urtheilskraft, wo sie bloß Begriffe mit einander vergleicht, eine geringere und leichtere, als wo sie den Uebergang vom ganz Einzelnen, dem Anschaulichen, zum wesentlich Allgemeinen, dem Begriff, macht. Da nämlich dort, durch Analyse der Begriffe in ihre wesentlichen Prädikate, ihre Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit auf rein logischem Wege muß entschieden werden können, wozu die Jedem einwohnende bloße Vernunft hinreicht; so ist die Urtheilskraft dabei nur in der Abkürzung jenes Processes thätig, indem der mit ihr Begabte schnell übersieht, was Andere erst durch eine Reihe von Reflexionen herausbringen. Ihre Thätigkeit im engern Sinne aber tritt allerdings erst da ein, wo das anschaulich Erkannte, also das Reale, die Erfahrung, in das deutliche, abstrakte Erkennen übertragen, unter genau entsprechende Begriffe subsumirt und so in das reflektirte Wissen abgesetzt werden soll. Daher ist es dieses Vermögen, welches die festen Grundlagen aller Wissenschaften, als welche stets im unmittelbar Erkannten, nicht weiter Abzuleitenden bestehn, aufzustellen hat. Hier in den Grundurtheilen liegt daher auch die Schwierigkeit derselben, nicht in den Schlüssen daraus. Schließen ist leicht, urtheilen schwer. Falsche Schlüsse sind eine Seltenheit, falsche Urtheile stets an der Tagesordnung. Nicht weniger hat die Urtheilskraft im praktischen Leben, bei allen Grundbeschlüssen und Hauptentscheidungen, den Ausschlag zu geben; wie denn der richterliche Ausspruch, in der Hauptsache, ihr Werk ist. Bei ihrer Thätigkeit muß, – auf ähnliche Art, wie das Brennglas die Sonnenstrahlen in einen engen Fokus zusammenzieht, – der Intellekt alle Data, die er über eine Sache hat, so eng zusammenbringen, daß er sie mit Einem Blick erfaßt, welchen er nun richtig fixirt und dann mit Besonnenheit das Ergebniß sich deutlich macht. Zudem beruht die große Schwierigkeit des Unheils in den meisten Fällen darauf, daß wir von der Folge auf den Grund zu gehn haben, welcher Weg stets unsicher ist; ja, ich habe nachgewiesen, daß hier die Quelle alles Irrthums liegt. Dennoch ist in allen empirischen Wissenschaften, wie auch in den Angelegenheiten des wirklichen Lebens, dieser Weg meistens der einzige vorhandene. Das Experiment ist schon ein Versuch, ihn in umgekehrter Richtung zurückzulegen: daher ist es entscheidend und bringt wenigstens den Irrthum zu Tage; vorausgesetzt, daß es richtig gewählt und redlich angestellt sei, nicht aber wie die Neutonischen Experimente in der Farbenlehre; aber auch das Experiment muß wieder beurtheilt werden. Die vollkommene Sicherheit der Wissenschaften a priori , also der Logik und Mathematik, beruht hauptsächlich darauf, daß in ihnen uns der Weg vom Grunde auf die Folge offen steht, der allemal sicher ist. Dies verleiht ihnen den Charakter rein objektiver Wissenschaften, d.h. solcher, über deren Wahrheiten Alle, welche dieselben verstehn, auch übereinstimmend urtheilen müssen; welches um so auffallender ist, als gerade sie auf den subjektiven Formen des Intellekts beruhen, während die empirischen Wissenschaften allein es
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