Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
Vom Netzwerk:
Aussage eines Zeugen sofort entkräften. Hier also liegt das Kriterium zwischen Geistesgesundheit und Verrücktheit. Sobald ich zweifle, ob ein Vorgang, dessen ich mich erinnere, auch wirklich Statt gefunden, werfe ich auf mich selbst den Verdacht des Wahnsinns; es sei denn, ich wäre ungewiß, ob es nicht ein bloßer Traum gewesen. Zweifelt ein Anderer an der Wirklichkeit eines von mir als Augenzeugen erzählten Vorgangs, ohne meiner Redlichkeit zu mißtrauen; so hält er mich für verrückt. Wer durch häufig wiederholtes Erzählen eines ursprünglich von ihm erlogenen Vorganges endlich dahin kommt, ihn selbst zu glauben, ist, in diesem Einen Punkt, eigentlich schon verrückt. Man kann einem Verrückten witzige Einfälle, einzelne gescheute Gedanken, selbst richtige Urtheile zutrauen: aber seinem Zeugniß über vergangene Begebenheiten wird man keine Gültigkeit beilegen. In der Lalitavistara, bekanntlich der Lebensgeschichte des Buddha Schakya-Muni, wird erzählt, daß, im Augenblicke seiner Geburt, auf der ganzen Welt alle Kranke gesund, alle Blinde sehend, alle Taube hörend wurden und alle Wahnsinnigen »ihr Gedächtniß wiedererhielten«. Letzteres wird sogar an zwei Stellen erwähnt 43 .
    Meine eigene, vieljährige Erfahrung hat mich auf die Vermuthung geführt, daß Wahnsinn verhältnißmäßig am häufigsten bei Schauspielern eintritt. Welchen Mißbrauch treiben aber auch diese Leute mit ihrem Gedächtniß! Täglich haben sie eine neue Rolle einzulernen, oder eine alte aufzufrischen: diese Rollen sind aber sämmtlich ohne Zusammenhang, ja, im Widerspruch und Kontrast mit einander, und jeden Abend ist der Schauspieler bemüht, sich selbst ganz zu vergessen, um ein völlig Anderer zu seyn. Dergleichen bahnt geradezu den Weg zum Wahnsinn.
    Die im Texte gegebene Darstellung der Entstehung des Wahnsinns wird faßlicher werden, wenn man sich erinnert, wie ungern wir an Dinge denken, welche unser Interesse, unsern Stolz, oder unsere Wünsche stark verletzen, wie schwer wir uns entschließen, Dergleichen dem eigenen Intellekt zu genauer und ernster Untersuchung vorzulegen, wie leicht wir dagegen unbewußt davon wieder abspringen, oder abschleichen, wie hingegen angenehme Angelegenheiten ganz von selbst uns in den Sinn kommen und, wenn verscheucht, uns stets wieder beschleichen, daher wir ihnen stundenlang nachhängen. In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen, liegt die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann. Jeder widrige neue Vorfall nämlich muß vom Intellekt assimilirt werden, d.h. im System der sich auf unsern Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten eine Stelle erhalten, was immer Befriedigenderes er auch zu verdrängen haben mag. Sobald dies geschehn ist, schmerzt er schon viel weniger; aber diese Operation selbst ist oft sehr schmerzlich, geht auch meistens nur langsam und mit Widerstreben von Statten. Inzwischen kann nur sofern sie jedesmal richtig vollzogen worden, die Gesundheit des Geistes bestehn. Erreicht hingegen, in einem einzelnen Fall, das Widerstreben und Sträuben des Willens wider die Aufnahme einer Erkenntniß den Grad, daß jene Operation nicht rein durchgeführt wird; werden demnach dem Intellekt gewisse Vorfälle oder Umstände völlig unterschlagen, weil der Wille ihren Anblick nicht ertragen kann; wird alsdann, des nothwendigen Zusammenhangs wegen, die dadurch entstandene Lücke beliebig ausgefüllt; – so ist der Wahnsinn da. Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein was nicht ist. Jedoch wird der so entstandene Wahnsinn jetzt der Lethe unerträglicher Leiden: er war das letzte Hülfsmittel der geängstigten Natur, d.i. des Willens.
    Beiläufig sei hier ein beachtungswerther Beleg meiner Ansicht erwähnt. Carlo Gozzi , im Mostro turchino , Akt I, Scene 2, führt uns eine Person vor, welche einen Vergessenheit herbeiführenden Zaubertrank getrunken hat: diese stellt sich ganz wie eine Wahnsinnige dar.
    Der obigen Darstellung zufolge kann man also den Ursprung des Wahnsinns ansehn als ein gewaltsames »Sich aus dem Sinn schlagen« irgend einer Sache, welches jedoch nur möglich ist mittelst des »Sich in den Kopf setzen« irgend einer andern. Seltener ist der umgekehrte Hergang, daß nämlich das »Sich in den Kopf setzen« das Erste und das »Sich aus dem Sinn schlagen« das Zweite ist. Er findet jedoch Statt in den Fällen, wo Einer

Weitere Kostenlose Bücher