Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
einen feinen Verstand, den das alsdann eintretende Phlegma unterstützt, hervorbringen; aber ein phlegmatisches Genie ist unmöglich. Aus dieser vom Vater kommenden Bedingung des Genies erklären sich viele der oben geschilderten Temperamentsfehler desselben. Ist hingegen diese Bedingung ohne die erstere, also bei gewöhnlich oder gar schlecht konstituirtem Gehirn vorhanden; so giebt sie Lebhaftigkeit ohne Geist, Hitze ohne Licht, liefert Tollköpfe, Menschen von unerträglicher Unruhe und Petulanz. Daß von zwei Brüdern nur der eine Genie hat, und dann meistens der ältere, wie es z.B. Kants Fall war, ist zunächst daraus erklärlich, daß nur bei seiner Zeugung der Vater im Alter der Kraft und Leidenschaftlichkeit war; wiewohl auch die andere, von der Mutter stammende Bedingung durch ungünstige Umstände verkümmert werden kann.
Noch habe ich hier eine besondere Bemerkung hinzuzufügen über den kindlichen Charakter des Genies, d.h. über eine gewisse Aehnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet. – In der Kindheit nämlich ist, wie beim Genie, das Cerebral-und Nervensystem entschieden überwiegend: denn seine Entwickelung eilt der des übrigen Organismus weit voraus; so daß bereits mit dem siebenten Jahre das Gehirn seine volle Ausdehnung und Masse erlangt hat. Schon Bichat sagt daher: Dans l'enfance les système nerveux, comparé au musculaire, est proportionnellement plus considérable que dans tous les âges suivans, tandis que, par la suite, la pluspart des autres systèmes prédominent sur celui-ci. On sait que, pour bien voir les nerfs, on choisit toujours les enfans (De la vie et de la mort, Art. 8, § 6). Am spätesten hingegen fängt die Entwickelung des Genitalsystems an, und erst beim Eintritt des Mannesalters sind Irritabilität, Reproduktion und Genitalfunktion in voller Kraft, wo sie dann, in der Regel, das Uebergewicht über die Gehirnfunktion haben. Hieraus ist es erklärlich, daß die Kinder, im Allgemeinen, so klug, vernünftig, wißbegierig und gelehrig, ja, im Ganzen, zu aller theoretischen Beschäftigung aufgelegter und tauglicher, als die Erwachsenen, sind: sie haben nämlich in Folge jenes Entwickelungsganges mehr Intellekt als Willen, d.h. als Neigung, Begierde, Leidenschaft. Denn Intellekt und Gehirn sind Eins, und eben so ist das Genitalsystem Eins mit der heftigsten aller Begierden: daher ich dasselbe den Brennpunkt des Willens genannt habe. Eben weil die heillose Thätigkeit dieses Systems noch schlummert, während die des Gehirns schon volle Regsamkeit hat, ist die Kindheit die Zeit der Unschuld und des Glückes, das Paradies des Lebens, das verlorene Eden, auf welches wir, unsern ganzen übrigen Lebensweg hindurch, sehnsüchtig zurückblicken. Die Basis jenes Glückes aber ist, daß in der Kindheit unser ganzes Daseyn viel mehr im Erkennen, als im Wollen liegt; welcher Zustand zudem noch von außen durch die Neuheit aller Gegenstände unterstützt wird. Daher liegt die Welt, im Morgenglanze des Lebens, so frisch, so zauberisch schimmernd, so anziehend vor uns. Die kleinen Begierden, schwankenden Neigungen und geringfügigen Sorgen der Kindheit sind gegen jenes Vorwalten der erkennenden Thätigkeit nur ein schwaches Gegengewicht. Der unschuldige und klare Blick der Kinder, an dem wir uns erquicken, und der bisweilen, in einzelnen, den erhabenen, kontemplativen Ausdruck, mit welchem Raphael seine Engelsköpfe verherrlicht hat, erreicht, ist aus dem Gesagten erklärlich. Demnach entwickeln die Geisteskräfte sich viel früher, als die Bedürfnisse, welchen zu dienen sie bestimmt sind: und hierin verfährt die Natur, wie überall, sehr zweckmäßig. Denn in dieser Zeit der vorwaltenden Intelligenz sammelt der Mensch einen großen Vorrath von Erkenntnissen, für künftige, ihm zur Zeit noch fremde Bedürfnisse. Daher ist sein Intellekt jetzt unablässig thätig, faßt begierig alle Erscheinungen auf, brütet darüber und speichert sie sorgfältig auf, für die kommende Zeit, – der Biene gleich, die sehr viel mehr Honig sammelt, als sie verzehren kann, im Vorgefühl künftiger Bedürfnisse. Gewiß ist was der Mensch bis zum Eintritt der Pubertät an Einsicht und Kenntniß erwirbt, im Ganzen genommen, mehr, als Alles was er nachher lernt, würde er auch noch so gelehrt: denn es ist die Grundlage aller menschlichen Erkenntnisse. – Bis zur selben Zeit waltet im kindlichen Leibe die Plasticität vor, deren Kräfte späterhin, nachdem sie ihr Werk vollendet
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