Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
den Anlaß, über welchen er verrückt geworden, beständig gegenwärtig behält und nicht davon los kommen kann: so z.B. bei manchem verliebten Wahnsinn, Erotomanie, wo dem Anlaß fortwährend nachgehangen wird; auch bei dem aus Schreck über einen plötzlichen, entsetzlichen Vorfall entstandenen Wahnsinn. Solche Kranke halten den gefaßten Gedanken gleichsam krampfhaft fest, so daß kein anderer, am wenigsten ein ihm entgegenstehender, aufkommen kann. Bei beiden Hergängen bleibt aber das Wesentliche des Wahnsinns das Selbe, nämlich die Unmöglichkeit einer gleichförmig zusammenhängenden Rückerinnerung, wie solche die Basis unserer gesunden, vernünftigen Besonnenheit ist. – Vielleicht könnte der hier dargestellte Gegensatz der Entstehungsweise, wenn mit Urtheil angewandt, einen scharfen und tiefen Eintheilungsgrund des eigentlichen Irrwahns abgeben.
Uebrigens habe ich nur den psychischen Ursprung des Wahnsinns in Betracht genommen, also den durch äußere, objektive Anlässe herbeigeführten. Oefter jedoch beruht er auf rein somatischen Ursachen, auf Mißbildungen, oder partiellen Desorganisationen des Gehirns, oder seiner Hüllen, auch auf dem Einfluß, welchen andere krankhaft afficirte Theile auf das Gehirn ausüben. Hauptsächlich bei letzterer Art des Wahnsinns mögen falsche Sinnesanschauungen, Hallucinationen, vorkommen. Jedoch werden beiderlei Ursachen des Wahnsinns meistens von einander participiren, zumal die psychische von der somatischen. Es ist damit wie mit dem Selbstmorde: selten mag dieser durch den äußern Anlaß allein herbeigeführt seyn, sondern ein gewisses körperliches Mißbehagen liegt ihm zum Grunde, und je nach dem Grade, den dieses erreicht, ist ein größerer oder kleinerer Anlaß von außen erforderlich; nur beim höchsten Grade desselben gar keiner. Daher ist kein Unglück so groß, daß es Jeden zum Selbstmord bewöge, und keines so klein, daß nicht schon ein ihm gleiches dahin geführt hätte. Ich habe die psychische Entstehung des Wahnsinns dargelegt, wie sie bei dem, wenigstens allem Anschein nach, Gesunden durch ein großes Unglück herbeigeführt wird. Bei dem somatisch bereits stark dazu Disponirten wird eine sehr geringe Widerwärtigkeit dazu hinreichend seyn: so z.B. erinnere ich mich eines Menschen im Irrenhause, welcher Soldat gewesen und wahnsinnig geworden war, weil sein Offizier ihn mit Er angeredet hatte. Bei entschiedener körperlicher Anlage, bedarf es, sobald diese zur Reife gekommen, gar keines Anlasses. Der aus bloß psychischen Ursachen entsprungene Wahnsinn kann vielleicht, durch die ihn erzeugende, gewaltsame Verkehrung des Gedankenlaufs, auch eine Art Lähmung oder sonstige Depravation irgend welcher Gehirntheile herbeiführen, welche, wenn nicht bald behoben, bleibend wird; daher Wahnsinn nur im Anfang, nicht aber nach längerer Zeit heilbar ist.
Daß es eine mania sine delirio , Raserei ohne Verrücktheit, gebe, hatte Pinel gelehrt, Esquirol bestritten, und seitdem ist viel dafür und dawider gesagt worden. Die Frage ist nur empirisch zu entscheiden. Wenn aber ein solcher Zustand wirklich vorkommt; so ist er daraus zu erklären, daß hier der Wille sich der Herrschaft und Leitung des Intellekts, und mithin der Motive, periodisch ganz entzieht, wodurch er dann als blinde, ungestüme, zerstörende Naturkraft auftritt, und demnach sich äußert als die Sucht, Alles, was ihm in den Weg kommt, zu vernichten. Der so losgelassene Wille gleicht dann dem Strohme, der den Damm durchbrochen, dem Rosse, das den Reiter abgeworfen hat, der Uhr, aus welcher die hemmenden Schrauben herausgenommen sind. Jedoch wird bloß die Vernunft, also die reflektive Erkenntniß, von jener Suspension getroffen, nicht auch die intuitive ; da sonst der Wille ohne alle Leitung, folglich der Mensch unbeweglich bliebe. Vielmehr nimmt der Rasende die Objekte wahr, da er auf sie losbricht; hat auch Bewußtseyn seines gegenwärtigen Thuns und nachher Erinnerung desselben. Aber er ist ohne alle Reflexion, also ohne alle Leitung durch Vernunft, folglich jeder Ueberlegung und Rücksicht auf das Abwesende, das Vergangene und Zukünftige ganz unfähig. Wann der Anfall vorüber ist und die Vernunft die Herrschaft wiedererlangt hat, ist ihre Funktion regelrecht, da ihre eigene Thätigkeit hier nicht verrückt und verdorben ist, sondern nur der Wille das Mittel gefunden hat, sich ihr auf eine Weile ganz zu entziehn.
Kapitel 33.Vereinzelte Bemerkungen über Naturschönheit
Den Anblick einer
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