Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Objektivationsstufen des Willens sind die allgemeinen Naturkräfte. Die Erkenntnis der Ideen erfolgt, wenn wir nicht mehr die Erscheinungen am Leitfaden des Satzes vom Grunde verfolgen, nicht nach ihrem Warum usw. ragen, sondern nur in ruhiger Kontemplation auf ihr Was schauen. Mit dem Subjekt ist in diesem Moment eine Wandlung erfolgt: es ist nicht begehrend, sondern interesseloses, unegoistisches, reines, allgemeines Subjekt des Erkennens. Dies ist der ästhetische Zustand, den die Kunst vermittelt. Sie geht auf die Erfassung der Ideen und die Mitteilung dieser Erkenntnis, die vom Willen ganz losgerissen ist. Die Kunst »wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt«. Sie »reißt das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Strom des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich: und dieses Einzelne, was in jenem Strom ein verschwindend kleiner Teil war, wird ihr ein Repräsentant des Ganzen, ein Äquivalent des in Raum und Zeit unendlich Vielen«. Schön ist jedes Ding als »Ausdruck einer Idee« (spekulative Gehaltsästhetik). Die verschiedenen Künste unterscheiden sich durch das Material, an welchem sie Ideen zum Ausdruck bringt (Bildende Kunst, Poesie, Musik). Zweck der schönen Baukunst ist die »Verdeutlichung der Ojektivation des Willens auf der niedrigsten Stufe seiner Sichtbarkeit, wo er sich als dumpfes, erkenntnisloses, gesetzmäßiges Streben der Masse zeigt und doch schon Selbstentzweiung und Kampf offenbart, nämlich durch Schwere und Starrheit«. Das Trauerspiel (Tragische) zeigt den Willen in seinem Zwiespalt mit sich selbst in furchtbarer Größe und Deutlichkeit. Eine ganz eigene Stellung nimmt die Musik ein. Sie ist nicht die Abbildung einer Idee, sondern mehr, nämlich »eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens , wie die Welt selbst es ist, so wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht«. Die Musik ist also das unmittelbare Abbild, der Ausdruck des Willens selbst und deshalb von so mächtiger Wirkung. Im Grundbaß kommen die niedrigsten Stufen der Willensobjektivation zum Ausdruck, in der Melodie das Leben und Streben des Menschen. Das Genie ist »vollkommenste Objektivität«, Vollkommenheit und Energie der anschauenden Erkenntnis, der Kontemplation frei vom Dienste des Willens, die Fähigkeit, »klares Weltauge« zu sein.
Die Kunst befreit uns für kurze Zeit von der Unruhe des Lebenswillens, sie ist ein »Quietiv« und ein Palliativ, ein Beruhigungsmittel, welches freilich nur zeitweise hilft. Die Unseligkeit des Lebenswillens bleibt bestehen. Die Basis alles Willens ist Bedürftigkeit, Mangel, Schmerz oder aber Langeweile, zwischen denen das Leben wie ein Pendel hin und her schwingt. Lust ist nur momentanes Aufhören von Unlust, alles Glück nur negativer Art, jedes Leben ein Leiden. Der rastlos strebende Wille ist nie zu befriedigen. »Denn alles Streben entspringt aus Mangel, aus Unzufriedenheit mit seinem Zustande, ist also Leiden, solange es nicht befriedigt ist; keine Befriedigung aber ist dauernd, vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens.« Das Streben hat kein Ziel, das Leiden kein Maß; die Welt ist ein »Jammertal«. Daher ist der Optimismus eine »wahrhaft ruchlose Denkungsart«, der extremste Pessimismus ist gerechtfertigt. Als Erzeugnis des blinden Willens ist die Welt durchaus schlecht, eine schlechtere Welt kann es gar nicht geben, sie könnte nicht bestehen. Die Welt selbst ist das Weltgericht, sie leidet an ihrem eigenen Willen, aus eigener Schuld. Je mehr die Einsicht in das Wesen der Welt erwacht, also je höher die Intelligenz wird, desto größer wird das Leiden, von dem zunächst mir die Kunst auf Augenblicke erlöst.
Dieser metaphysische Pessimismus liegt nun auch der Ethik Sch.s zugrunde. Diese ist Mittleidsmoral, erwachsend aus der Einsicht in die Wesensgleichheit, Identität aller Leidenden, aller Wesen, durch welche Einsicht der ursprüngliche Egoismus überwunden wird. Das Mitleid ist das Fundament der Moral, das einzige echt sittliche Motiv, die »echte, d.h. uneigennützige Tugend«, die Basis aller freien Gerechtigkeit und Menschenliebe. Moralischen Wert hat nur die aus Mitleid geborene Handlung. Mitleid ist Teilnahme am Leiden eines Anderen. Dieser aber ist an sich eins mit uns selbst (»tat twam asi« – dies alles bist du, wie die indische Lehre lautet). Im anderen leiden wir
Weitere Kostenlose Bücher