Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
hoch steht, ist ein schlechtes Wissen, wenn nicht auch hinzukommt, daß es so vom Gegengewicht der Luft gehalten wird. Aber in der Mathematik soll uns die qualitas occulta des Cirkels, daß die Abschnitte jeder zwei in ihm sich schneidender Sehnen stets gleiche Rektangel bilden, genügen? Daß es so sei, beweist freilich Eukleides im 35sten Satze des dritten Buches: das Warum steht noch dahin. Eben so lehrt der Pythagorische Lehrsatz uns eine qualitas occulta des rechtwinklichten Dreiecks kennen: des Eukleides stelzbeiniger, ja hinterlistiger Beweis verläßt uns beim Warum, und beistehende, schon bekannte, einfache Figur giebt auf einen Blick weit mehr, als jener Beweis, Einsicht in die Sache und innere feste Ueberzeugung von jener Nothwendigkeit und von der Abhängigkeit jener Eigenschaft vom rechten Winkel:
Auch bei ungleichen Katheten muß es sich zu einer solchen anschaulichen Ueberzeugung bringen lassen, wie überhaupt bei jeder möglichen geometrischen Wahrheit, schon deshalb, weil ihre Auffindung allemal von einer solchen angeschauten Nothwendigkeit ausgieng und der Beweis erst hinterher hinzu ersonnen ward: man bedarf also nur einer Analyse des Gedankenganges bei der ersten Auffindung einer geometrischen Wahrheit, um ihre Nothwendigkeit anschaulich zu erkennen. Es ist überhaupt die analytische Methode, welche ich für den Vortrag der Mathematik wünsche, statt der synthetischen, welche Eukleides gebraucht hat. Allerdings aber wird dies, bei komplicirten mathematischen Wahrheiten, sehr große, jedoch nicht unüberwindliche Schwierigkeiten haben. Schon fängt man in Deutschland hin und wieder an, den Vortrag der Mathematik zu andern und mehr diesen analytischen Weg zu gehn. Am entschiedensten hat dies Herr Kosack , Lehrer der Mathematik und Physik am Gymnasio zu Nordhausen, gethan, indem er dem Programm zur Schulprüfung am 6. April 1852 einen ausführlichen Versuch, die Geometrie nach meinen Grundsätzen zu behandeln, beigegeben hat.
Um die Methode der Mathematik zu verbessern, wird vorzüglich erfordert, daß man das Vorurtheil aufgebe, die bewiesene Wahrheit habe irgend einen Vorzug vor der anschaulich erkannten, oder die logische, auf dem Satz vom Widerspruch beruhende, vor der metaphysischen, welche unmittelbar evident ist und zu der auch die reine Anschauung des Raumes gehört.
Das Gewisseste und überall Unerklärbare ist der Inhalt des Satzes vom Grunde. Denn dieser, in seinen verschiedenen Gestalten, bezeichnet die allgemeine Form aller unserer Vorstellungen und Erkenntnisse. Alle Erklärung ist Zurückführung auf ihn. Nachweisung im einzelnen Fall des durch ihn überhaupt ausgedrückten Zusammenhangs der Vorstellungen. Er ist sonach das Princip aller Erklärung und daher nicht selbst einer Erklärung fähig, noch ihrer bedürftig, da jede ihn schon voraussetzt und nur durch ihn Bedeutung erhält. Nun hat aber keine seiner Gestalten einen Vorzug vor der andern: er ist gleich gewiß und unbeweisbar als Satz vom Grunde des Seyns, oder des Werdens, oder des Handelns, oder des Erkennens. Das Verhältniß des Grundes zur Folge ist, in der einen wie in der andern seiner Gestalten, ein nothwendiges, ja es ist überhaupt der Ursprung, wie die alleinige Bedeutung, des Begriffs der Nothwendigkeit. Es giebt keine andere Nothwendigkeit, als die der Folge, wenn der Grund gegeben ist, und es giebt keinen Grund, der nicht Nothwendigkeit der Folge herbeiführte. So sicher also aus dem in den Prämissen gegebenen Erkenntnißgrunde die im Schlußsatze ausgesprochene Folge fließt, so sicher bedingt der Seynsgrund im Raum seine Folge im Raum: habe ich das Verhältniß dieser Beiden anschaulich erkannt, so ist diese Gewißheit eben so groß, wie irgend eine logische. Ausdruck eines solchen Verhältnisses ist aber jeder geometrische Lehrsatz, eben so gut, wie eines der zwölf Axiome: er ist eine metaphysische Wahrheit und als solche eben so unmittelbar gewiß, wie der Satz vom Widerspruche selbst, der eine metalogische Wahrheit und die allgemeine Grundlage aller logischen Beweisführung ist. Wer die anschaulich dargelegte Nothwendigkeit der in irgend einem Lehrsatze ausgesprochenen räumlichen Verhältnisse leugnet, kann mit gleichem Recht die Axiome leugnen, und mit gleichem Recht die Folge des Schlusses aus den Prämissen, ja den Satz vom Widerspruch selbst: denn alles Dieses sind gleich unbeweisbare, unmittelbar evidente und a priori erkennbare Verhältnisse. Wenn man daher die anschaulich erkennbare
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