Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
wie (r -b ), so daß man sie nicht mehr vollzieht, sondern nur andeutet.
Mit dem selben Recht und der selben Sicherheit, wie in der Arithmetik, könnte man auch in der Geometrie die Wahrheit allein durch reine Anschauung a priori begründet seyn lassen. In der That ist es auch immer diese, gemäß dem Satz vom Grunde des Seyns anschaulich erkannte Nothwendigkeit, welche der Geometrie ihre große Evidenz ertheilt und auf der im Bewußtseyn eines Jeden die Gewißheit ihrer Sätze beruht: keineswegs ist es der auf Stelzen einherschreitende logische Beweis, welcher, der Sache immer fremd, meistens bald vergessen wird, ohne Nachtheil der Ueberzeugung, und ganz wegfallen könnte, ohne daß die Evidenz der Geometrie dadurch vermindert würde, da sie ganz unabhängig von ihm ist und er immer nur Das beweist, wovon man schon vorher, durch eine andere Erkenntnißart, völlige Ueberzeugung hat: insofern gleicht er einem feigen Soldaten, der dem von andern erschlagenen Feinde noch eine Wunde versetzt, und sich dann rühmt, ihn erledigt zu haben 26 .
Diesem allen zufolge wird es hoffentlich keinem Zweifel weiter unterliegen, daß die Evidenz der Mathematik, welche zum Musterbild und Symbol aller Evidenz geworden ist, ihrem Wesen nach nicht auf Beweisen, sondern auf unmittelbarer Anschauung beruht, welche also hier, wie überall, der letzte Grund und die Quelle aller Wahrheit ist. Jedoch hat die Anschauung, welche der Mathematik zum Grunde liegt, einen großen Vorzug vor jeder andern, also vor der empirischen. Nämlich, da sie a priori ist, mithin unabhängig von der Erfahrung, die immer nur theilweise und successiv gegeben wird; liegt ihr Alles gleich nahe, und man kann beliebig vom Grunde, oder von der Folge ausgehn. Dies nun giebt ihr eine völlige Untrüglichkeit dadurch, daß in ihr die Folge aus dem Grunde erkannt wird, welche Erkenntniß allein Nothwendigkeit hat: z.B. die Gleichheit der Seiten wird erkannt als begründet durch die Gleichheit der Winkel; da hingegen alle empirische Anschauung und der größte Theil aller Erfahrung nur umgekehrt von der Folge zum Grunde geht, welche Erkenntnißart nicht unfehlbar ist, da Nothwendigkeit allein der Folge zukommt, sofern der Grund gegeben ist, nicht aber der Erkenntniß des Grundes aus der Folge, da die selbe Folge aus verschiedenen Gründen entspringen kann. Diese letztere Art der Erkenntniß ist immer nur Induktion: d.h. aus vielen Folgen, die auf einen Grund deuten, wird der Grund als gewiß angenommen; da die Fälle aber nie vollständig beisammen seyn können, so ist die Wahrheit hier auch nie unbedingt gewiß. Diese Art von Wahrheit allein aber hat alle Erkenntniß durch sinnliche Anschauung und die allermeiste Erfahrung. Die Affektion eines Sinnes veranlaßt einen Verstandesschluß von der Wirkung auf die Ursache; weil aber vom Begründeten auf den Grund der Schluß nie sicher ist, so ist der falsche Schein, als Sinnentrug, möglich und oft wirklich, wie oben ausgeführt. Erst wenn mehrere oder alle fünf Sinne Affektionen erhalten, welche auf die selbe Ursache deuten, ist die Möglichkeit des Scheines äußerst klein geworden, dennoch aber vorhanden: denn in gewissen Fällen, z.B. durch falsche Münze, täuscht man die gesammte Sinnlichkeit. Im selben Fall ist alle empirische Erkenntniß, folglich die ganze Naturwissenschaft, ihren reinen (nach Kant metaphysischen) Theil bei Seite gesetzt. Auch hier werden aus den Wirkungen die Ursachen erkannt: daher beruht alle Naturlehre auf Hypothesen, die oft falsch sind und dann allmälig richtigeren Platz machen. Bloß bei den absichtlich angestellten Experimenten geht die Erkenntniß von der Ursache auf die Wirkung, also den sichern Weg; aber sie selbst werden erst in Folge von Hypothesen unternommen. Deshalb konnte kein Zweig der Naturwissenschaft, z.B. Physik, oder Astronomie, oder Physiologie, mit einem Male gefunden werden, wie Mathematik oder Logik es konnten; sondern es bedurfte und bedarf der gesammelten und verglichenen Erfahrungen vieler Jahrhunderte. Erst vielfache empirische Bestätigung bringt die Induktion, auf der die Hypothese beruht, der Vollständigkeit so nahe, daß sie für die Praxis die Stelle der Gewißheit einnimmt und der Hypothese ihr Ursprung so wenig nachtheilig erachtet wird, wie der Anwendung der Geometrie die Inkommensurabilität gerader und krummer Linien, oder der Arithmetik die nicht zu erlangende vollkommene Richtigkeit des Logarithmus: denn wie man die Quadratur des Cirkels und den
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