Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
anschauliche Evidenz muthwillig zu verwerfen, um ihr eine logische zu substituiren. Wir müssen finden, daß dies ist, wie wenn Jemand sich die Beine abschnitte, um mit Krücken zu gehn, oder wie wenn der Prinz, im »Triumph der Empfindsamkeit«, aus der wirklichen schönen Natur flieht, um sich an einer Theaterdekoration, die sie nachahmt, zu erfreuen. – Ich muß hier an dasjenige erinnern, was ich im sechsten Kapitel der Abhandlung über den Satz vom Grunde gesagt habe, und setze es als dem Leser in frischem Andenken und ganz gegenwärtig voraus; so daß ich hier meine Bemerkungen daran knüpfe, ohne von Neuem den Unterschied auseinanderzusetzen zwischen dem bloßen Erkenntnißgrund einer mathematischen Wahrheit, der logisch gegeben werden kann, und dem Grunde des Seyns, welcher der unmittelbare, allein anschaulich zu erkennende Zusammenhang der Theile des Raumes und der Zeit ist, die Einsicht in welchen allein wahre Befriedigung und gründliche Kenntniß gewährt, während der bloße Erkenntnißgrund stets auf der Oberfläche bleibt, und zwar ein Wissen, daß es so ist, aber keines, warum es so ist, geben kann. Eukleides gieng diesen letztern Weg, zum offenbaren Nachtheil der Wissenschaft. Denn z.B. gleich Anfangs, wo er ein für alle Mal zeigen sollte, wie im Dreieck Winkel und Seiten sich gegenseitig bestimmen und Grund und Folge von einander sind, gemäß der Form, die der Satz vom Grund im bloßen Raume hat, und die dort, wie überall, die Nothwendigkeit giebt, daß Eines so ist, wie es ist; weil ein von ihm ganz verschiedenes Anderes so ist, wie es ist; statt so in das Wesen des Dreiecks eine gründliche Einsicht zu geben, stellt er einige abgerissene, beliebig gewählte Sätze über das Dreieck auf und giebt einen logischen Erkenntnißgrund derselben, durch einen mühsäligen, logisch, gemäß dem Satz des Widerspruchs geführten Beweis. Statt einer erschöpfenden Erkenntniß dieser räumlichen Verhältnisse, erhält man daher nur einige beliebig mitgetheilte Resultate aus ihnen, und ist in dem Fall, wie Jemand, dem die verschiedenen Wirkungen einer künstlichen Maschine gezeigt, ihr innerer Zusammenhang und Getriebe aber vorenthalten würde. Daß, was Eukleides demonstrirt, alles so sei, muß man, durch den Satz vom Widerspruch gezwungen, zugeben: warum es aber so ist, erfährt man nicht. Man hat daher fast die unbehagliche Empfindung, wie nach einem Taschenspielerstreich, und in der That sind einem solchen die meisten Eukleidischen Beweise auffallend ähnlich. Fast immer kommt die Wahrheit durch die Hinterthür herein, indem sie sich per accidens aus irgend einem Nebenumstand ergiebt. Oft schließt ein apagogischer Beweis alle Thüren, eine nach der andern zu, und läßt nur die eine offen, in die man nun bloß deswegen hinein muß. Oft werden, wie im Pythagorischen Lehrsatze, Linien gezogen, ohne daß man weiß warum: hinterher zeigt sich, daß es Schlingen waren, die sich unerwartet zuziehn und den Assensus des Lernenden gefangen nehmen, der nun verwundert zugeben muß, was ihm seinem innern Zusammenhang nach völlig unbegreiflich bleibt, so sehr, daß er den ganzen Eukleides durchstudiren kann, ohne eigentliche Einsicht in die Gesetze der räumlichen Verhältnisse zu gewinnen, sondern statt ihrer nur einige Resultate aus ihnen auswendig lernt. Diese eigentliche empirische und unwissenschaftliche Erkenntniß gleicht der des Arztes, welcher Krankheit und Mittel dagegen, aber nicht den Zusammenhang Beider kennt. Dieses alles aber ist die Folge, wenn man die einer Erkenntnißart eigenthümliche Weise der Begründung und Evidenz grillenhaft abweist, und statt ihrer eine ihrem Wesen fremde gewaltsam einführt. Indessen verdient übrigens die Art, wie vom Eukleides dieses durchgesetzt ist, alle Bewunderung, die ihm so viele Jahrhunderte hindurch geworden und so weit gegangen ist, daß man seine Behandlungsart der Mathematik für das Muster aller wissenschaftlichen Darstellung erklärte, nach der man sogar alle andern Wissenschaften zu modeln sich bemühte, später jedoch hievon zurückkam, ohne sehr zu wissen warum. In unsern Augen kann jene Methode des Eukleides in der Mathematik dennoch nur als eine sehr glänzende Verkehrtheit erscheinen. Nun läßt sich aber wohl immer von jeder großen, absichtlich und methodisch betriebenen, dazu vom allgemeinen Beifall begleiteten Verirrung, sie möge das Leben oder die Wissenschaft betreffen, der Grund nachweisen in der zu ihrer Zeit herrschenden Philosophie. – Die
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