Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Nothwendigkeit räumlicher Verhältnisse erst durch eine logische Beweisführung aus dem Satze vom Widerspruch ableiten will; so ist es nicht anders, als wenn dem unmittelbaren Herrn eines Landes ein anderer dasselbe erst zu Lehn ertheilen wollte. Dies aber ist es, was Eukleides gethan hat. Bloß seine Axiome läßt er nothgedrungen auf unmittelbarer Evidenz beruhen: alle folgenden geometrischen Wahrheiten werden logisch bewiesen, nämlich, unter Voraussetzung jener Axiome, aus der Uebereinstimmung mit den im Lehrsatz gemachten Annahmen, oder mit einem frühern Lehrsatz, oder auch aus dem Widerspruch des Gegentheils des Lehrsatzes mit den Annahmen, den Axiomen, den früheren Lehrsätzen, oder gar sich selbst. Aber die Axiome selbst haben nicht mehr unmittelbare Evidenz, als jeder andere geometrische Lehrsatz, sondern nur mehr Einfachheit durch geringeren Gehalt.
Wenn man einen Delinquenten vernimmt, so nimmt man seine Aussagen zu Protokoll, um aus ihrer Uebereinstimmung ihre Wahrheit zu beurtheilen. Dies ist aber ein bloßer Nothbehelf, bei dem man es nicht bewenden läßt, wenn man unmittelbar die Wahrheit jeder seiner Aussagen für sich erforschen kann; zumal da er von Anfang an konsequent lügen konnte. Jene erste Methode ist es jedoch, nach der Eukleides den Raum erforschte. Zwar gieng er dabei von der richtigen Voraussetzung aus, daß die Natur überall, also auch in ihrer Grundform, dem Raum, konsequent seyn muß und daher, weil die Theile des Raumes im Verhältniß von Grund und Folge zu einander stehn, keine einzige räumliche Bestimmung anders seyn kann, als sie ist, ohne mit allen andern im Widerspruch zu stehn. Aber dies ist ein sehr beschwerlicher und unbefriedigender Umweg, der die mittelbare Erkenntniß der eben so gewissen unmittelbaren vorzieht, der ferner die Erkenntniß, daß etwas ist, von der, warum es ist, zum großen Nachtheil der Wissenschaft trennt, und endlich dem Lehrling die Einsicht in die Gesetze des Raumes gänzlich vorenthält, ja, ihn entwöhnt vom eigentlichen Erforschen des Grundes und des Innern Zusammenhanges der Dinge, ihn statt dessen anleitend, sich an einem historischen Wissen, daß es so sei, genügen zu lassen. Die dieser Methode so unablässig nachgerühmte Uebung des Scharfsinns besteht aber bloß darin, daß sich der Schüler im Schließen, d.h. im Anwenden des Satzes vorn Widerspruch, übt, besonders aber sein Gedächtniß anstrengt, um alle jene Data, deren Uebereinstimmung zu vergleichen ist, zu behalten.
Es ist übrigens bemerkenswerth, daß diese Beweismethode bloß auf die Geometrie angewandt worden und nicht auf die Arithmetik: vielmehr läßt man in dieser die Wahrheit wirklich allein durch Anschauung einleuchten, welche hier im bloßen Zählen besteht. Da die Anschauung der Zahlen in der Zeit allein ist und daher durch kein sinnliches Schema, wie die geometrische Figur, repräsentirt werden kann; so fiel hier der Verdacht weg, daß die Anschauung nur empirisch und daher dem Schein unterworfen wäre, welcher Verdacht allein die logische Beweisart hat in die Geometrie bringen können. Zählen ist, weil die Zeit nur eine Dimension hat, die einzige arithmetische Operation, auf die alle andern zurückzuführen sind: und dies Zählen ist doch nichts Anderes, als Anschauung a priori , auf welche sich zu berufen man hier keinen Anstand nimmt, und durch welche allein das Uebrige, jede Rechnung, jede Gleichung, zuletzt bewährt wird. Man beweist z.B. nicht, daß (7+9)·8-2 / 3 = 42; sondern man beruft sich auf die reine Anschauung in der Zeit, das Zählen, macht also jeden einzelnen Satz zum Axiom. Statt der Beweise, welche die Geometrie füllen, ist daher der ganze Inhalt der Arithmetik und Algebra eine bloße Methode zum Abkürzen des Zählens. Unsere unmittelbare Anschauung der Zahlen in der Zeit reicht zwar, wie oben erwähnt, nicht weiter, als etwan bis Zehn: darüber hinaus muß schon ein abstrakter Begriff der Zahl, durch ein Wort fixirt, die Stelle der Anschauung vertreten, welche daher nicht mehr wirklich vollzogen, sondern nur ganz bestimmt bezeichnet wird. Jedoch ist selbst so, durch das wichtige Hülfsmittel der Zahlenordnung, welche größere Zahlen immer durch die selben kleinen repräsentiren läßt, eine anschauliche Evidenz jeder Rechnung möglich gemacht, sogar da, wo man die Abstraktion so sehr zu Hülfe nimmt, daß nicht nur die Zahlen, sondern unbestimmte Größen und ganze Operationen nur in abstracto gedacht und in dieser Hinsicht bezeichnet werden,
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