Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
diesem Sinne ist es anzusehn als ein beharrender Augenblick, ein Nunc stans. – Hier sehn wir, beiläufig, am deutlichsten, daß überhaupt die Form des Lebens, oder der Erscheinung des Willens mit Bewußtseyn, zunächst und unmittelbar bloß die Gegenwart ist; Vergangenheit und Zukunft kommen allein beim Menschen und zwar bloß im Begriff hinzu, werden in abstracto erkannt und allenfalls durch Bilder der Phantasie erläutert. – Nachdem also der Wille zum Leben, d.i. das innere Wesen der Natur, in rastlosem Streben nach vollkommener Objektivation und vollkommenem Genuß, die ganze Reihe der Thiere durchlaufen hat, – welches oft in den mehrfachen Absätzen successiver, stets von Neuem anhebender Thierreihen auf dem selben Planeten geschieht; – kommt er zuletzt in dem mit Vernunft ausgestatteten Wesen, im Menschen, zur Besinnung . Hier nun fängt die Sache an ihm bedenklich zu werden, die Frage dringt sich ihm auf, woher und wozu das Alles sei, und hauptsächlich, ob die Mühe und Noth seines Lebens und Strebens wohl durch den Gewinn belohnt werde? le jeu vaut-il bien la chandelle? – Demnach ist hier der Punkt, wo er, beim Lichte deutlicher Erkenntniß, sich zur Bejahung oder Verneinung des Willens zum Leben entscheidet; wiewohl er sich Letztere, in der Regel, nur in einem mythischen Gewände zum Bewußtseyn bringen kann. – Wir haben demzufolge keinen Grund, anzunehmen, daß es irgendwo noch zu höher gesteigerten Objektivationen des Willens komme; da er hier schon an seinem Wendepunkte angelangt ist.
Kapitel 46.Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens
Aus der Nacht der Bewußtlosigkeit zum Leben erwacht findet der Wille sich als Individuum, in einer end- und gränzenlosen Welt, unter zahllosen Individuen, alle strebend, leidend, irrend; und wie durch einen bangen Traum eilt er zurück zur alten Bewußtlosigkeit. – Bis dahin jedoch sind seine Wünsche gränzenlos, seine Ansprüche unerschöpflich, und jeder befriedigte Wunsch gebiert einen neuen. Keine auf der Welt mögliche Befriedigung könnte hinreichen, sein Verlangen zu stillen, seinem Begehren ein endliches Ziel zu setzen und den bodenlosen Abgrund seines Herzens auszufüllen. Daneben nun betrachte man, was dem Menschen, an Befriedigungen jeder Art, in der Regel, wird: es ist meistens nicht mehr, als die, mit unablässiger Mühe und steter Sorge, im Kampf mit der Noth, täglich errungene, kärgliche Erhaltung dieses Daseyns selbst, den Tod im Prospekt. – Alles im Leben giebt kund, daß das irdische Glück bestimmt ist, vereitelt oder als eine Illusion erkannt zu werden. Hiezu liegen tief im Wesen der Dinge die Anlagen. Demgemäß fällt das Leben der meisten Menschen trübsälig und kurz aus. Die komparativ Glücklichen sind es meistens nur scheinbar, oder aber sie sind, wie die Langlebenden, seltene Ausnahmen, zu denen eine Möglichkeit übrig bleiben mußte, – als Lockvogel. Das Leben stellt sich dar als ein fortgesetzter Betrug, im Kleinen, wie im Großen. Hat es versprochen, so hält es nicht; es sei denn, um zu zeigen, wie wenig wünschenswerth das Gewünschte war: so täuscht uns also bald die Hoffnung, bald das Gehoffte. Hat es gegeben; so war es, um zu nehmen. Der Zauber der Entfernung zeigt uns Paradiese, welche wie optische Täuschungen verschwinden, wann wir uns haben hinäffen lassen. Das Glück liegt demgemäß stets in der Zukunft, oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen, welche der Wind über die besonnte Fläche treibt: vor ihr und hinter ihr ist Alles hell, nur sie selbst wirft stets einen Schatten. Sie ist demnach allezeit ungenügend, die Zukunft aber ungewiß, die Vergangenheit unwiederbringlich. Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen, größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn. Stellt doch vielmehr jene fortwährende Täuschung und Enttäuschung, wie auch die durchgängige Beschaffenheit des Lebens, sich dar als darauf abgesehn und berechnet, die Ueberzeugung zu erwecken, daß gar nichts unsers Strebens, Treibens und Ringens werth sei, daß alle Güter nichtig seien, die Welt an allen
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