Die Welt auf dem Kopf
einzuordnen.
»Ich will nicht, dass du so oft bei den Dienstmädchen der Johnsons bist«, warf mir meine Tante vor. »Sonst verlernst du noch Italienisch, wenn du während der Sommerferiennur Sardisch hörst. Und stell nicht so viele Fragen. Was musst du immer die Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken?«
Weil ich hoffte, ich könnte die Dinge, die mir seit Papas Selbstmord und Mamas Flucht in den Wahnsinn unbegreiflich waren, besser verstehen, wenn ich Tatsachen sammelte und zusammenfügte – einfache, nackte Tatsachen. Aber gibt es das, einfache, nackte Tatsachen?
Fünf
A ls ich mein Studium begann, zog ich ganz hierher, an den Ort, wo ich als Kind immer die Sommerferien verbracht hatte.
Im Bad und in der Küche höre ich die Schritte des Signore von oben, wenn er in seinen Schuhen mit den losen Schnürsenkeln die Treppe hinabsteigt.
Auch wenn er Anna nur einen mickrigen Lohn angeboten hat, geht sie gegen sechs Uhr abends, sobald sie von ihren verschiedenen anderen Putzstellen zurück ist, nach oben und kümmert sich um seinen Haushalt. Obwohl sie jetzt noch mehr arbeiten muss als vorher, verdient sie kaum mehr. Aus dem Kochen kommt sie gar nicht mehr heraus. In ihrer Küche bereitet sie das Abendessen und das Mittagessen für den nächsten Tag zu – für sich und Natascha, für Mr. Johnson, der Vegetarier ist, und, wenn ich Glück habe,auch für mich, und wenn sie Glück haben, auch für die armen Weißen, Gelben und Schwarzen in unserer Nachbarschaft. Ich liebe die Gerüche und Düfte, die aus ihrer Küche kommen: nach Basilikum, Frittiertem, Gemüsebrühe oder Bollito misto – verschiedene Sorten gekochtes Fleisch mit grüner Soße – und den Kuchen, die sie zum Frühstück backt. Wenn Anna gegen neun Uhr abends dann wieder in ihre Wohnung hinuntersteigt, essen sie und Natascha zu Abend. Und wenn in meiner Küche noch Licht brennt, kommt Anna ans Fenster und fragt: »Unu zicchedd’e suppa?« »Pasta cun bagna?«, »Culingionis?« – »Wie wär’s mit einem Teller Suppe?«, »… Pasta mit Tomatensoße?«, »… Kartoffelravioli?«
Auch wenn ich bereits zu Abend gegessen habe, sage ich nie Nein, denn bei Anna schmeckt es mir immer.
Mutter und Tochter geraten sich wegen des Signore von oben unentwegt in die Haare.
»Die Violine. Ach, die Violine!«, braucht Anna nur zu sagen. »Bei dem Straßenlärm kriegt ihr ja nur ein paar Fetzen von seiner Musik mit, aber ihr müsstet ihn oben hören! Ob ihr es mir glaubt oder nicht, wenn er spielt, erledigt sich meine Arbeit wie von allein. O ja, die Musik beflügelt die Seele!«
»Die Musik beflügelt die Seele!«, ahmt Natascha sie im gleichen Tonfall nach.
»Er spielt auf Kreuzfahrtschiffen! Er muss einer der ganz Großen sein! Als Nächstes fährt er in die Karibik!«
»Wenn er in seinem Alter noch auf Kreuzfahrtschiffen spielt und diese alte Schrottlaube fährt, kann er wohl kaum ein ganz Großer sein. Ein merkwürdiger Kauz ist er, jawohl, ein heruntergekommener, übel riechender Rumstreuner«, fährt Natascha fort, die nicht anders kann, als ihr zu widersprechen.
»Stimmt schon, er riecht nicht besonders gut. Aber schlecht riecht er auch nicht. Das kommt daher, dass er, obwohl er sich morgens von Kopf bis Fuß duscht, abends nicht noch mal die Stellen wäscht, wo er geschwitzt hat, zum Beispiel die Füße, nachdem er die Schuhe lange anhatte. Aber am nächsten Morgen duscht er sich dann wieder von Kopf bis Fuß.«
»Ich habe auch noch nie gesehen, dass jemand ihn besucht.«
»Na klar! Wo es doch niemanden gibt, der ihm das Wasser reicht! Seine Augen, ach, seine Augen! Nicht, dass mich seine Augen interessieren würden, aber was für eine Freude sind die Augen des Signore von oben, wenn er lächelt! Es ist, als würden sie einen um Hilfe bitten. Und ich würde ihm so gern helfen, weil ihm abgesehen vom Geigespielen nichts gelingt. Nicht mal den Stromzähler findet er, obwohl er direkt neben dem Eingang ist, oder den Wasserzähler, der sich, für jedermann sichtbar, im großen Badezimmer befindet. Er kann noch nicht mal einen Koffer packen. Aber wenn ich es mir recht überlege, könnte ich, glaube ich, auch keinen Koffer packen.«
»Du bist ja auch noch nie verreist, während er ständig in der Welt herumgondelt.«
Als Allererstes hat Anna für Mr. Johnson, der mit Vornamen Levi heißt, was eigentlich ein Nachname ist, ordentliche Mahlzeiten zubereitet. Davor ernährte er sich nämlich von Sachen, die Kinder so gern mögen, zum Beispiel
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