Sueße kleine graue Maus
1
Sie begegnete ihm auf dem Flur, als sie gerade auf dem Weg nach unten zum Abendessen war.
Mit ihm hatte sie überhaupt nicht gerechnet, und sein plötzliches Auftauchen erschreckte sie. Mehrere Dinge passierten auf einmal. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie preßte sich eng an die Wand.
»Hallo. Habe ich Sie erschreckt?« fragte er. Dabei lächelte er sie belustigt an. Seine Zähne leuchteten weiß in seinem tief gebräunten Gesicht. Er zog die Augenbrauen hoch, und dichtes braunes Haar fiel ihm in die Stirn.
Sein Lächeln war faszinierend und verführerisch. Ihr Herz schlug unregelmäßig.
»N-ein«, stammelte sie.
»Hat Ihnen Tante Ruby nicht erzählt, daß ein neuer Mieter einzieht?«
»Doch, aber ich ...« Sie brach ab. Sie konnte ihm doch nicht sagen: Ja, aber ich habe einen zerstreuten älteren Herrn mit Pfeife und Strickjacke erwartet und nicht jemanden, dessen breites Kreuz kaum durchs Treppenhaus paßt.
Tatsächlich hatte sie sich den neuen Mieter mit gütiger Miene und freundlichem Lächeln vorgestellt. Auf so einen Draufgänger war sie nicht gefaßt gewesen.
Immer noch lächelnd, stellte er den Karton mit CDs und Kassetten ab, den er unter dem rechten Arm getragen hatte, und streckte die Hand aus.
»Trent Gamblin«, stellte er sich vor. Rana starrte verwirrt auf seine Hand, als wüßte sie nicht, was sie damit machen sollte, dann endlich legte sie ihre leicht hinein. »Ich bin Miss Ramsey.«
Als sie zögernd den Blick hob und in sein Gesicht sah, war sein Lächeln noch breiter geworden. Sicher machte er sich über ihr mimosenhaftes Verhalten lustig.
»Brauchen Sie Hilfe, Mr. Gamblin?« fragte sie steif und zog ihre Hand zurück.
»Ich glaube, das schaffe ich schon allein, Miss Ramsey.« Seine Miene war jetzt ernst, aber der Schalk saß ihm noch immer in den dunklen, ausdrucksvollen Augen.
Leicht irritiert darüber, daß er sich so auf ihre Kosten amüsierte, stieß Rana sich von der Wand ab und richtete sich auf. »Dann entschuldigen Sie mich bitte. Ich gehe hinunter zum Abendessen. Ruby hat es nicht gern, wenn ich zu spät zu den Mahlzeiten erscheine.«
»Ich sollte mich wohl auch besser beeilen. Rechts oder links?« wollte er wissen.
»Bitte?«
»Welches ist mein Apartment? Das auf der linken oder das auf der rechten Seite?«
»Auf der linken.«
»Das rechte gehört Ihnen?«
»Ja.«
»Hoffentlich kann ich das auseinanderhalten, Miss Ramsey. Stellen Sie sich vor, ich verirre mich eines Nachts in Ihr Zimmer!« Sein Blick wanderte abschätzend über ihren Körper. »Nicht auszudenken, was da alles passieren könnte!« fügte er hinzu.
Er machte sich über sie lustig! »Wir sehen uns unten«, erklärte sie kühl. Dann schob sie sich an ihm vorbei und zwang ihn damit, sich gegen die Wand zu drücken. Aber er stand immer noch weit genug auf dem Treppenabsatz, um im Vorübergehen von ihrem Kleid gestreift zu werden. Das machte er natürlich mit Absicht! Sie konnte sein arrogantes Grinsen in ihrem Rücken spüren.
Wenn er wüßte, dachte Rana wütend und lief hinunter. Miss Ramsey könnte ihn sinnlos verwirren, ihn in seinen eigenen Fallen fangen, dieses aufreizende Grinsen aus seinem glatten Gesicht verjagen, ihn mit ihrer Schönheit zu Eis erstarren lassen ...
Auf der dritten Stufe von unten blieb sie stehen. Was gingen ihr da für Gedanken durch den Kopf! Seit Monaten hatte sie sich nicht mehr um ihr Aussehen gekümmert. Das alles lag weit hinter ihr. Warum dachte sie ausgerechnet jetzt, nachdem sie den neuen Mieter in Ruby Baileys Haus gesehen hatte, an die Rana, die sie noch vor sechs Monaten gewesen war? Sie schüttelte den Kopf.
Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Von ihrem früheren Leben hatte sie sich radikal gelöst. Sie war nicht bereit, es wiederaufzunehmen, nicht einmal für kurze Zeit, nur um diesen Trent Gamblin in seine Schranken zu verweisen.
Wenn sie sich wieder in die weltbekannte Rana verwandelte, würden all die Selbstquälereien und Schmerzen, die allein mit diesem Namen verbunden waren, wieder auferstehen. Sie hatte den Status einer Berühmtheit abgelegt. Zu sehr genoß sie die Anonymität ihres gleichförmigen Lebens.
Rana gefiel es, einfach nur Miss Ramsey zu sein, eine unscheinbare Bewohnerin einer unscheinbaren Pension in Galveston, die für ihre Gäste kleine Apartments mit eigenem Bad bereithielt.
Ruby Bailey jedoch war alles andere als eine typische Pensionswirtin. Als Rana jetzt das Eßzimmer betrat, zündete Ruby gerade die
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