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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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bekam heftiges Herzklopfen. Mein Körper, meine Nerven erwiesen sich nach vielen Monaten der Ersatzstoffe nicht mehr aufnahmefähig für wirklichen Kaffee und wirklichen Tabak; auch der Körper mußte sich nach dem Unnatürlichen des Krieges wieder umstellen auf das Natürliche des Friedens.
    Dieser Taumel, diese wohlige Schwindligkeit übertrug sich auch ins Geistige. Jeder Baum schien mir schöner, jeder Berg freier, jede Landschaft beglückender, denn innerhalb eines Kriegslandes wirkt dem verdüsterten Blicke der selig atmende Friede einer Wiese wie freche Gleichgültigkeit der Natur, jeder purpurne Sonnenuntergang erinnert an das vergossene Blut; hier im natürlichen Zustand des Friedens war die edle Abseitigkeit der Natur wieder natürlich geworden, und ich liebte die Schweiz, wie ich sie nie zuvor geliebt. Immer war ich gerne in dies bei kleinem Umfang großartige und in seiner Vielfalt unerschöpfliche Land gekommen. Nie aber hatte ich den Sinn seines Daseins so sehr empfunden: die schweizerische Idee des Beisammenseins der Nationen im selben Raume ohne Feindlichkeit, diese weiseste Maxime durch wechselseitige Achtung und eine ehrlich durchlebte Demokratie sprachliche und volkliche Unterschiede zur Brüderlichkeit zu erheben – welch ein Beispiel dies für unser ganzes verwirrtes Europa! Refugium aller Verfolgten, seit Jahrhunderten Heimstatt des Friedens und der Freiheit, gastlich jeder Gesinnung bei treuester Bewahrung seiner besonderen Eigenart – wie wichtig erwies sich die Existenz dieses einzig übernationalen Staates für unsere Welt! Zu Recht schien mir dies Land mit Schönheit gesegnet, mit Reichtum bedacht. Nein, hier war man nicht fremd; ein freier, unabhängiger Mensch fühlte sich in dieser tragischen Weltstunde hier mehr zu Hause als in seinem eigenen Vaterland. Stundenlang trieb es mich noch nachts in Zürich durch die Straßen und am Seeufer entlang. Die Lichter schimmerten Frieden, hier hatten die Menschen noch die gute Gelassenheit des Lebens. Ich meinte zu spüren, daß hinter den Fenstern nicht schlaflos Frauen in den Betten lagen und an ihre Söhne dachten, ich sah keine Verwundeten, keine Verstümmelten, nicht die jungen Soldaten, die morgen, übermorgen in die Züge verladen werden sollten – man fühlte sich hier berechtigter zu leben, während es im Kriegslande schon eine Scheu gewesen und fast eine Schuld, noch unverstümmelt zu sein.
    Aber nicht die Besprechungen wegen meiner Aufführung, nicht die Begegnung mit Schweizer und ausländischen Freunden waren mir das Dringlichste. Ich wollte vor allem Rolland sehen, den Mann, von dem ich wußte, daß er mich fester, klarer und tätiger machen konnte, und ich wollte ihm danken für das, was mir sein Zuspruch, seine Freundschaft in den Tagen bitterster Seeleneinsamkeit gegeben. Zu ihm mußte mein erster Weg gehen, und ich fuhr sofort nach Genf. Nun befanden wir ›Feinde‹ uns eigentlich in einer ziemlich komplizierten Position. Es war selbstverständlich von den kriegführenden Regierungen nicht gerne gesehen, daß ihre Angehörigen mit jenen der feindlichen Nationen auf neutralem Gebiete persönlichen Verkehr pflegten. Aber es war andererseits durch kein Gesetz verboten. Es gab keinen einzigen Paragraphen, nach dem man für ein Beisammensein bestraft werden konnte. Verboten und Hochverrat gleichgestellt blieb einzig geschäftlicher Verkehr, ›Handel mit dem Feinde‹, und um uns auch nicht durch die leiseste Umgehung dieses Verbots verdächtig zu machen, vermieden wir Freunde sogar prinzipiell, uns eine Zigarette anzubieten, denn man war zweifelsohne ununterbrochen von zahllosen Agenten beobachtet. Um jedem Verdacht, als ob wir uns fürchteten oder schlechten Gewissens wären, zu entgehen, wählten wir internationalen Freunde die einfachste Methode: die der Offenheit. Wir schrieben uns nicht unter Deckadressen oder poste restante, wir schlichen uns nicht etwa nachts heimlich zueinander, sondern gingen zusammen über die Straßen und saßen offen in den Cafés. So meldete ich mich auch gleich nach der Ankunft in Genf mit vollem Namen unten beim Hotelportier, ich wünschte Herrn Romain Rolland zu sprechen, gerade weil es besser war für das deutsche oder französische Nachrichtenbüro, wenn sie melden konnten, wer ich war und wen ich besuchte; für uns bedeutete es doch nur eine Selbstverständlichkeit, daß zwei alte Freunde sich nicht deshalb plötzlich auszuweichen hatten, weil sie zufällig zwei verschiedenen Nationen

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