Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
gewiß, den Krieg vorzeitig getötet. Aber leider erschienen sie nur in dem kleinen Blättchen ›La Feuille‹, das kaum über Genf hinausdrang. Alles, was wir sagten und versuchten, war im engen Schweizer Kreis verkerkert und kam erst zur Wirkung, da es zu spät war. Im geheimen täuschten wir uns darüber nicht, daß wir machtlos waren gegen die große Maschine der Generalstäbe und politischen Ämter, und wenn sie uns nicht verfolgten, so war es vielleicht deshalb, weil wir ihnen nicht gefährlich werden konnten, erstickt wie unser Wort, gehemmt wie unsere Wirkung blieb. Aber gerade, daß wir wußten, wie wenige, wie allein wir waren, drängte uns enger zusammen Brust an Brust, Herz an Herz. Nie mehr in reiferen Jahren habe ich so enthusiastische Freundschaft empfunden wie in jenen Stunden in Genf, und die Bindung hat allen späteren Zeiten standgehalten.
Vom psychologischen und historischen Standpunkt aus (nicht vom künstlerischen) war die merkwürdigste Figur dieser Gruppe Henri Guilbeaux; an seiner Person habe ich überzeugender als an jeder anderen das unumstößliche Gesetz der Geschichte bestätigt gesehen, daß in Epochen jäher Umstürze, insbesondere während eines Krieges oder einer Revolution Mut und Verwegenheit oft für eine kurze Frist mehr gelten als innere Bedeutung, und hitzige Zivilcourage entscheidender sein kann als Charakter und Stetigkeit. Immer wenn die Zeit rasch vorwärtsstürzt und sich überstürzt, gewinnen Naturen, die es verstehen, ohne jedes Zögern sich in die Welle zu werfen, den Vorsprung. Und wie viele eigentlich ephemere Gestalten hat sie über sich selbst hinausgetragen damals, Bela Kun, Kurt Eisner, bis an eine Stelle, der sie innerlich nicht gewachsen waren! Guilbeaux, ein schmächtiges, blondes Männchen mit scharfen, unruhigen grauen Augen und einer lebhaften Suada, war an sich nicht begabt. Obwohl er es gewesen, der meine Gedichte fast ein Jahrzehnt früher schon ins Französische übertragen, muß ich ehrlicherweise seine literarischen Fähigkeiten unbedeutend nennen. Seine Sprachkraft reichte nicht über die Mittelmäßigkeit hinaus, seine Bildung nirgends in die Tiefe. All seine Kraft lag in der Polemik. Er gehörte aus einer unglücklichen Anlage seines Charakters zu jenen Menschen, die immer ›dagegen‹ sein müssen, gleichgültig eigentlich, wogegen. Ihm war nur wohl, wenn er als echter Gamin sich herumschlagen konnte und gegen irgend etwas anrennen, das stärker war als er selbst. In Paris hatte er vor dem Kriege, obwohl er im Grunde ein gutmütiger Bursche war, in der Literatur unablässig gegen einzelne Richtungen und Leute herumpolemisiert, dann in den radikalen Parteien sich umgetan, und keine war ihm radikal genug gewesen. Nun, im Kriege, hatte er plötzlich als Antimilitarist einen gigantischen Gegner gefunden: den Weltkrieg. Die Ängstlichkeit, die Feigheit der meisten, andererseits wieder die Verwegenheit, die Tollkühnheit, mit der er sich in den Kampf warf, machten ihn für einen Weltaugenblick wichtig und sogar unentbehrlich. Ihn lockte gerade, was die andern schreckte: die Gefahr. Daß die andern so wenig wagten und er allein soviel, das gab diesem an sich unbedeutenden Literaten eine plötzliche Größe und steigerte seine publizistischen, seine kämpferischen Fähigkeiten über ihr natürliches Niveau – ein Phänomen, das man ebenso in der Französischen Revolution bei den kleinen Advokaten und Juristen der Gironde beobachten konnte. Während die andern schwiegen, während wir selber zögerten und bei jedem Anlaß sorgfältig überlegten, was zu tun und zu unterlassen, griff er entschlossen zu, und es wird Guilbeaux’ dauerndes Verdienst bleiben, die einzige geistig bedeutsame Antikriegszeitschrift des Ersten Weltkrieges, ›Demain‹, gegründet und geleitet zu haben, ein Dokument, das jeder nachlesen muß, der die geistigen Strömungen jener Epoche wirklich verstehen will. Er gab, was wir brauchten: ein Zentrum der internationalen, der übernationalen Diskussion mitten im Krieg. Daß Rolland sich hinter ihn stellte, entschied die Bedeutung der Zeitschrift, denn dank seiner moralischen Autorität und seiner Verbindungen konnte er ihm die wertvollsten Mitarbeiter aus Europa, Amerika und Indien bringen; anderseits gewannen die damals noch aus Rußland exilierten Revolutionäre Lenin, Trotzkij und Lunartscharskij zu Guilbeaux’ Radikalität Vertrauen und schrieben regelmäßig für ›Demain‹. So gab es in der Welt für zwölf oder zwanzig
Weitere Kostenlose Bücher