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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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ihn beschworen, nach Rußland mitzukommen, weil er wohl verstand, wie wichtig die moralische Autorität Rollands für seine Sache gewesen wäre. Aber Rolland blieb fest entschlossen, keiner Gruppe sich zu verschreiben, sondern unabhängig nur mit der eigenen Person der Sache zu dienen, der er sich verschworen: der gemeinsamen. So wie er niemandes Unterwerfung unter seine Ideen forderte, verweigerte er sich jeder Bindung. Wer ihn liebte, sollte selbst ungebunden bleiben, und er wollte kein anderes Beispiel geben als dies eine: wie man frei bleiben kann und getreu seiner eigenen Überzeugung auch gegen die ganze Welt.

    In Genf begegnete ich gleich am ersten Abend auch der kleinen Gruppe der Franzosen und anderen Ausländern, die sich um zwei kleine unabhängige Zeitungen ›La Feuille‹ und ›Demain‹ sammelten, P.-J. Jouve, René Arcos, Frans Masereel. Wir wurden innige Freunde mit jenem raschen Elan, wie man sonst nur Jugendfreundschaften schließt. Aber wir fühlten instinktiv, daß wir am Anfang eines ganz neuen Lebens standen. Die meisten unserer alten Beziehungen waren durch die patriotische Verblendung der bisherigen Kameraden ungültig geworden. Man brauchte neue Freunde, und da wir doch in der gleichen Front standen, im gleichen geistigen Schützengraben gegen den gleichen Feind, bildete sich spontan zwischen uns eine Art leidenschaftlicher Kameradschaft; nach vierundzwanzig Stunden waren wir einander so vertraut, als ob wir uns seit Jahren gekannt, und gaben uns bereits, wie es eben an jeder Front üblich ist, das brüderliche Du. Alle spürten wir – ›we few, we happy few, we band of brothers‹ – mit dem persönlich Gefährlichen auch das Einmalig-Verwegene unseres Zusammenseins; wir wußten, daß fünf Stunden weit jeder Deutsche, der einen Franzosen, jeder Franzose, der einen Deutschen erspähte, ihn mit dem Bajonett anfiel oder mit der Handgranate zerschmetterte und dafür eine Auszeichnung bekam, daß Millionen hüben und drüben einzig davon träumten, einander auszurotten und vom Erdboden zu vertilgen, daß die Zeitungen von den ›Gegnern‹ nur mit Schaum vor dem Munde sprachen, indes wir, diese einzige Handvoll unter den Millionen und Millionen, nicht nur friedlich an demselben Tische saßen, sondern in ehrlichster und sogar in bewußter leidenschaftlicher Brüderschaft. Wir wußten, in welchen Gegensatz wir uns damit gegen alles Offizielle und Befohlene stellten, wir wußten, daß wir uns durch die treue Bekundung unserer Freundschaft persönlich gegenüber unseren Vaterländern in Gefahr brachten; aber gerade das Wagnis trieb unser Unterfangen zu fast ekstatischen Steigerungen. Wir wollten doch wagen und wir genossen die Lust dieses Wagens, denn das Wagnis allein gab unserem Protest wirkliches Gewicht. So habe ich sogar (ein Unikum in diesem Kriege) mit P.-J. Jouve gemeinsam in Zürich eine öffentliche Vorlesung gehalten – er las französisch seine Gedichte, ich deutsch aus meinem ›Jeremias‹ –, aber gerade indem wir die Karten derart offen auflegten, zeigten wir, daß wir ehrlich waren in diesem verwegenen Spiel. Was man darüber in unseren Konsulaten und Gesandtschaften dachte, war uns gleichgültig, selbst wenn wir die Schiffe zur Heimkehr damit vielleicht wie Cortez hinter uns verbrannten. Denn wir waren in tiefster Seele davon durchdrungen, daß nicht wir die ›Verräter‹ waren, sondern die andern, welche die menschliche Aufgabe des Dichters an die zufällige Stunde verrieten. Und wie heroisch sie lebten, diese jungen Franzosen und Belgier! Da war Frans Masereel, der mit seinen Holzschnitten gegen die Greuel des Krieges vor unsern Augen das überdauernde zeichnerische Denkmal des Krieges schnitt, diese unvergeßlichen Blätter in Schwarz und Weiß, die an Wucht und Zorn selbst hinter Goyas ›Desastros de la guerra‹ nicht zurückstehen. Tag und Nacht schnitt dieser männliche Mann unermüdlich neue Gestalten und Szenen aus dem stummen Holz, das enge Zimmer und die Küche waren schon vollgehäuft mit diesen Holzblöcken, aber jeden Morgen brachte die ›Feuille‹ eine andere seiner zeichnerischen Anklagen, keine eine bestimmte Nation anklagend, alle nur denselben, unsern gemeinsamen Gegner: den Krieg. Wie träumten wir davon, daß man von Aeroplanen als Flugblätter diese jedem, auch dem geringsten Mann ohne Wort, ohne Sprache verständlichen grimmigen, grausigen Anprangerungen statt Bomben in die Städte und Armeen werfen könnte; sie hätten, ich bin dessen

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