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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Österreicher hinüber, um ihrerseits sich billig zu betrinken, und das gleiche Schauspiel begann zum zweitenmal, allerdings in der entgegengesetzten Richtung. Dieser Bierkrieg inmitten der beiden Inflationen gehört zu meinen sonderbarsten Erinnerungen, weil er plastisch-grotesk im kleinen den ganzen Irrsinnscharakter jener Jahre vielleicht am deutlichsten aufzeigt.
    Das Merkwürdigste ist, daß ich mich heute mit bestem Willen nicht mehr zu erinnern vermag, wie wir in diesen Jahren in unserem Hause gewirtschaftet haben, woher eigentlich jeder in Österreich immer wieder die Tausende und Zehntausende Kronen und dann in Deutschland die Millionen aufbrachte, die man täglich zum nackten Leben verbrauchte. Aber das Geheimnisvolle war: man hatte sie. Man gewöhnte sich, man paßte sich dem Chaos an. Logischerweise müßte ein Ausländer, der jene Zeit nicht mitgemacht hat, sich vorstellen, in einer Zeit, wo ein Ei in Österreich so viel kostete wie früher ein Luxusautomobil und in Deutschland später mit vier Milliarden Mark – soviel etwa wie vordem der Grundwert aller Häuser Groß-Berlins – bezahlt wurde, seien die Frauen mit zerrauftem Haar wie wahnsinnig durch die Straßen gestürzt, die Geschäfte verödet gewesen, weil niemand mehr etwas kaufen konnte, und vor allem die Theater und Vergnügungsstätten hätten völlig leergestanden. Aber erstaunlicherweise war genau das Gegenteil der Fall. Der Wille zur Kontinuität des Lebens erwies sich stärker als die Labilität des Geldes. Mitten im finanziellen Chaos ging das tägliche Leben beinahe ungestört weiter. Individuell änderte sich sehr viel, Reiche wurden arm, da das Geld in ihren Banken, ihren Staatspapieren zerfloß, Spekulanten wurden reich. Aber das Schwungrad drehte sich, unbekümmert über das Schicksal der einzelnen, hinweg im selben Rhythmus, nichts stand still; der Bäcker buk sein Brot, der Schuster machte seine Stiefel, der Schriftsteller schrieb seine Bücher, der Bauer bestellte das Land, die Züge verkehrten regelmäßig, jeden Morgen lag die Zeitung um die gewohnte Stunde vor der Tür, und gerade die Vergnügungslokale, die Bars, die Theater waren überfüllt. Denn eben durch das Unerwartete, daß das einstmals Stabilste, das Geld, täglich an Wert verlor, schätzten die Menschen die wirklichen Werte des Lebens – Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kunst und Natur – um so höher, und das ganze Volk lebte inmitten der Katastrophe intensiver und gespannter als je; Burschen und Mädel wanderten in die Berge und kamen sonnengebräunt heim, die Tanzlokale musizierten bis spät in die Nacht, neue Fabriken und Geschäfte wurden überall gegründet; ich selbst glaube kaum je intensiver gelebt und gearbeitet zu haben als in jenen Jahren. Was uns vordem wichtig gewesen, wurde noch wichtiger; nie haben wir in Österreich mehr die Kunst geliebt als in jenen Jahren des Chaos, weil wir am Verrat des Geldes fühlten, daß nur das Ewige in uns das wirklich Beständige war.
    Nie werde ich zum Beispiel eine Opernaufführung vergessen aus jenen Tagen der äußersten Not. Man tastete sich durch halbdunkle Straßen hin, denn die Beleuchtung mußte wegen der Kohlennot eingeschränkt werden, man zahlte seinen Galerieplatz mit einem Bündel Banknoten, das früher für das Jahresabonnement einer Luxusloge ausgereicht hätte. Man saß in seinem Überzieher, denn der Saal war nicht geheizt, und drängte sich gegen den Nachbarn, um sich zu wärmen; und wie trist, wie grau war dieser Saal, der früher geglänzt von Uniformen und kostbaren Toiletten! Niemand wußte, ob es möglich sein würde, nächste Woche die Oper noch fortzuführen, wenn der Schwund des Geldes weiter andauerte und die Kohlensendungen nur eine einzige Woche ausblieben; alles schien doppelt verzweifelt in diesem Haus des Luxus und kaiserlichen Überschwangs. An den Pulten saßen die Philharmoniker, graue Schatten auch sie, in ihren alten, abgetragenen Fräcken, ausgezehrt und von allen Entbehrungen erschöpft, und wie Gespenster wir selbst in dem gespenstisch gewordenen Haus. Aber dann hob der Dirigent den Taktstock, der Vorhang teilte sich, und es war herrlich wie nie. Jeder Sänger, jeder Musiker gab sein Letztes, denn sie alle fühlten, vielleicht war es das letzte Mal in diesem geliebten Haus. Und wir horchten und lauschten, aufgetan wie nie zuvor, denn vielleicht war es das letzte Mal. So lebten wir alle, wir Tausende, wir Hunderttausende; jeder gab seine äußerste Kraft in diesen Wochen und

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