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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Abwegen täppisch hinkenden Schritts nachzuschleichen suchten. Biedere, brave, graubärtige Akademieprofessoren übermalten ihre einstigen, jetzt unverkäuflich gewordenen ›Stilleben‹ mit symbolischen Würfeln und Kuben, weil die jungen Direktoren (überall suchte man jetzt Junge und besser noch: Jüngste) alle andern Bilder als zu ›klassizistisch‹ aus den Galerien räumten und ins Depot stellten. Schriftsteller, die jahrzehntelang ein rundes, klares Deutsch geschrieben, zerhackten folgsam ihre Sätze und exzedierten in ›Aktivismus‹, behäbige preußische Geheimräte dozierten auf dem Katheder Karl Marx, alte Hofballerinen tanzten dreiviertelnackt mit ›gestellten‹ Verrenkungen die ›Appassionata‹ Beethovens und Schönbergs ›Verklärte Nacht‹. Überall lief das Alter verstört der letzten Mode nach; es gab plötzlich nur den einen Ehrgeiz, ›jung‹ zu sein und hinter der gestern noch aktuellen eine noch aktuellere, noch radikalere und noch nie dagewesene Richtung prompt zu erfinden.
    Welch eine wilde, anarchische, unwahrscheinliche Zeit, jene Jahre, da mit dem schwindenden Wert des Geldes alle andern Werte in Österreich und Deutschland ins Rutschen kamen! Eine Epoche begeisterter Ekstase und wüster Schwindelei, eine einmalige Mischung von Ungeduld und Fanatismus. Alles, was extravagant und unkontrollierbar war, erlebte goldene Zeiten: Theosophie, Okkultismus, Spiritismus, Somnambulismus, Anthroposophie, Handleserei, Graphologie, indische Yoghilehren und paracelsischer Mystizismus. Alles, was äußerste Spannungen über die bisher bekannten hinausversprach, jede Form des Rauschgifts, Morphium, Kokain und Heroin, fand reißenden Absatz, in den Theaterstücken bildeten Inzest und Vatermord, in der Politik Kommunismus oder Faschismus die einzig erwünschte extreme Thematik; unbedingt verfemt hingegen war jede Form der Normalität und der Mäßigung. Aber ich möchte sie nicht missen, diese chaotische Zeit, nicht aus meinem eigenen Leben, nicht aus der Entwicklung der Kunst. Wie jede geistige Revolution im ersten Anschwung orgiastisch vorstoßend, hat sie die Luft vom Stickig-Traditionellen reingefegt, die Spannungen vieler Jahre entladen, und wertvolle Anregungen sind trotz allem von ihren verwegenen Experimenten zurückgeblieben. So sehr uns ihre Übertriebenheiten befremdeten, wir fühlten doch kein Recht, sie zu tadeln und hochmütig abzulehnen, denn im Grunde versuchte diese neue Jugend gutzumachen – wenn auch zu hitzig, zu ungeduldig –, was unsere Generation durch Vorsicht und Abseitigkeit versäumt. Im Innersten war ihr Instinkt richtig, daß die Nachkriegszeit anders sein müsse als die des Vorkriegs; und eine neue Zeit, eine bessere Welt – hatten wir Älteren sie nicht ebenso gewollt vor dem Kriege und während des Krieges? Freilich, auch nach dem Kriege hatten wir, die Älteren, neuerdings unsere Unfähigkeit bewiesen, der gefährlichen Neu-Politisierung der Welt rechtzeitig eine übernationale Organisation entgegenzustellen. Noch während der Friedensverhandlungen hatte zwar Henri Barbusse, dem sein Roman ›Le Feu‹ eine Weltstellung gegeben, versucht, eine Einigung aller europäischen Intellektuellen im Sinne der Versöhnung einzuleiten. ›Clarté‹ sollte diese Gruppe sich nennen – die Klardenkenden – und die Schriftsteller und Künstler aller Nationen zum Gelöbnis vereinigen, in Hinkunft jeder Verhetzung der Völker entgegenzutreten. Barbusse hatte mir und René Schickele gemeinsam die Führung der deutschen Gruppe angetragen und damit den schwierigeren Teil der Aufgabe, denn in Deutschland brannte noch die Erbitterung über den Friedensvertrag von Versailles. Es war wenig aussichtsreich, Deutsche von Rang für einen geistigen Übernationalismus zu gewinnen, solange das Rheinland, die Saar und der Mainzer Brückenkopf noch von fremden Truppen besetzt waren. Dennoch wäre es gelungen, eine Organisation zu schaffen, wie sie Galsworthy später mit dem P.E.N.-Klub verwirklichte, wenn uns Barbusse nicht im Stich gelassen hätte. Verhängnisvollerweise hatte eine Reise nach Rußland ihn durch den Enthusiasmus, der dort aus den großen Massen seiner Person entgegenbrandete, zur Überzeugung geführt, bürgerliche Staaten und Demokratien seien unfähig, eine wahre Verbrüderung der Völker herbeizuführen, und nur im Kommunismus sei eine Weltverbrüderung denkbar. Unmerklich suchte er aus ›Clarté‹ ein Instrument des Klassenkampfes zu machen, wir aber verweigerten

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