Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Geheimverträge und Verhandlungen hinter geschlossenen Türen vor Wilsons weiser und humaner Forderung triumphierend zu retten wußten. So weit sie wache Augen hatte, sah die Welt, daß sie betrogen worden war. Betrogen die Mütter, die ihre Kinder geopfert, betrogen die Soldaten, die als Bettler heimkehrten, betrogen all jene, die patriotisch Kriegsanleihe gezeichnet, betrogen jeder, der einer Versprechung des Staates Glauben geschenkt, betrogen wir alle, die geträumt von einer neuen und besser geordneten Welt und nun sahen, daß das alte Spiel, in dem unsere Existenz, unser Glück, unsere Zeit, unsere Habe den Einsatz stellten, von ebendenselben oder von neuen Hasardeuren wieder begonnen wurde. Was Wunder, wenn da eine ganze junge Generation erbittert und verachtungsvoll auf ihre Väter blickte, die sich erst den Sieg hatten nehmen lassen und dann den Frieden? Die alles schlecht gemacht, die nichts vorausgesehen und in allem falsch gerechnet? War es nicht verständlich, wenn jedwede Form des Respekts verschwand bei dem neuen Geschlecht? Eine ganze neue Jugend glaubte nicht mehr den Eltern, den Politikern, den Lehrern; jede Verordnung, jede Proklamation des Staates wurde mit mißtrauischem Blick gelesen. Mit einem Ruck emanzipierte sich die Nachkriegsgeneration brutal von allem bisher Gültigen und wandte jedweder Tradition den Rücken zu, entschlossen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, weg von alten Vergangenheiten und mit einem Schwung in die Zukunft. Eine vollkommen neue Welt, eine ganz andere Ordnung sollte auf jedem Gebiete des Lebens mit ihr beginnen; und selbstverständlich begann alles mit wilden Übertreibungen. Wer oder was nicht gleichaltrig war, galt als erledigt. Statt wie vordem mit ihren Eltern zu reisen, zogen elfjährige, zwölfjährige Kinder in organisierten und sexuell gründlich instruierten Scharen als ›Wandervögel‹ durch das Land bis nach Italien und an die Nordsee. In den Schulen wurden nach russischem Vorbild Schülerräte eingesetzt, welche die Lehrer überwachten, der ›Lehrplan‹ umgestoßen, denn die Kinder sollten und wollten bloß lernen, was ihnen gefiel. Gegen jede gültige Form wurde aus bloßer Lust an der Revolte revoltiert, sogar gegen den Willen der Natur, gegen die ewige Polarität der Geschlechter. Die Mädchen ließen sich die Haare schneiden, und zwar so kurz, daß man sie in ihren ›Bubiköpfen‹ von Burschen nicht unterscheiden konnte, die jungen Männer wiederum rasierten sich die Bärte, um mädchenhafter zu erscheinen, Homosexualität und Lesbierinnentum wurden nicht aus innerem Trieb, sondern als Protest gegen die althergebrachten, die legalen, die normalen Liebesformen große Mode. Jede Ausdrucksform des Daseins bemühte sich, radikal und revolutionär aufzutrumpfen, selbstverständlich auch die Kunst. Die neue Malerei erklärte alles, was Rembrandt, Holbein und Velasquez geschaffen, für abgetan und begann die wildesten kubistischen und surrealistischen Experimente. Überall wurde das verständliche Element verfemt, die Melodie in der Musik, die Ähnlichkeit im Porträt, die Faßlichkeit in der Sprache. Die Artikel ›der, die, das‹ wurden ausgeschaltet, der Satzbau auf den Kopf gestellt, man schrieb ›steil‹ und ›keß‹ im Telegrammstil, mit hitzigen Interjektionen, außerdem wurde jede Literatur, die nicht aktivistisch war, das heißt, nicht politisch theoretisierte, auf den Müllhaufen geworfen. Die Musik suchte starrsinnig eine neue Tonalität und spaltete die Takte, die Architektur drehte die Häuser von innen nach außen, im Tanz verschwand der Walzer vor kubanischen und negroiden Figuren, die Mode erfand mit starker Betonung der Nacktheit immer andere Absurditäten, im Theater spielte man ›Hamlet‹ im Frack und versuchte explosive Dramatik. Auf allen Gebieten begann eine Epoche wildesten Experimentierens, die alles Gewesene, Gewordene, Geleistete mit einem einzigen hitzigen Sprung überholen wollte; je jünger einer war, je weniger er gelernt hatte, desto willkommener war er durch seine Unverbundenheit mit jeder Tradition – endlich tobte sich die große Rache der Jugend gegen unsere Elternwelt triumphierend aus. Aber inmitten dieses wüsten Karnevals bot mir nichts ein tragikomischeres Schauspiel als zu sehen, wie viele Intellektuelle der älteren Generation in der panischen Angst, überholt zu werden und als ›unaktuell‹ zu gelten, sich verzweifelt rasch eine künstliche Wildheit anschminkten und auch den offenkundigsten
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