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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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uns einer Radikalisierung, die unsere Reihen notwendigerweise schwächen mußte. So fiel auch dies an sich bedeutende Projekt vorzeitig in sich zusammen. Wieder hatten wir im Kampf um die geistige Freiheit versagt aus zu großer Liebe zur eigenen Freiheit und Unabhängigkeit.
    So blieb nur eines: still und zurückgezogen sein eigenes Werk zu tun. Für die Expressionisten und – wenn ich so sagen darf – Exzessionisten war ich mit meinen sechsunddreißig Jahren schon in die ältere, in die eigentlich bereits verstorbene Generation abgerückt, weil ich mich weigerte, mich ihnen äffisch anzupassen. Meine früheren Arbeiten gefielen mir selbst nicht mehr, ich ließ keines jener Bücher aus meiner ›ästhetischen‹ Zeit mehr neu auflegen. Somit hieß es noch einmal beginnen und abwarten, bis die ungeduldige Welle all dieser ›Ismen‹ rückwärts lief, und für dieses Sich-Bescheiden kam mir mein Mangel an persönlichem Ehrgeiz förderlich zugute. Ich begann die große Serie der ›Baumeister der Welt‹ gerade um der Gewißheit willen, damit Jahre beschäftigt zu bleiben, ich schrieb Novellen wie ›Amok‹ und ›Brief einer Unbekannten‹ in völlig unaktivistischer Gelassenheit. Das Land um mich, die Welt um mich begannen allmählich in Ordnung zu kommen, so durfte auch ich nicht mehr zögern; vorbei war die Zeit, wo ich mir vortäuschen konnte, alles, was ich beginne, sei nur provisorisch. Die Mitte des Lebens war erreicht, das Alter der bloßen Versprechungen vorüber; jetzt galt es, das Verheißene zu bekräftigen und sich selbst zu bewähren oder sich endgültig aufzugeben.

Wieder in der Welt
    Drei Jahre, 1919, 1920, 1921, die drei schwersten Nachkriegsjahre Österreichs, hatte ich nun eingegraben in Salzburg gelebt, eigentlich schon die Hoffnung aufgebend, jemals wieder die Welt zu sehen. Der Zusammenbruch nach dem Kriege, der Haß im Auslande gegen jeden Deutschen oder deutsch Schreibenden, die Entwertung unserer Währung war so katastrophal, daß man sich im voraus bereits damit abgefunden hatte, sein Leben lang festgebannt zu bleiben an seine enge heimatliche Sphäre. Aber alles war besser gekommen. Man aß sich wieder satt. Man saß unbehelligt an seinem Schreibtisch. Es war nicht geplündert worden, es gab keine Revolution. Man lebte, man spürte seine Kräfte. Sollte man nicht doch wieder die Lust seiner jungen Jahre erproben und in die Ferne fahren?
    An weite Reisen war noch nicht zu denken. Aber Italien lag nahe, nur acht oder zehn Stunden weit. Sollte man es wagen? Als Österreicher galt man drüben als der ›Erbfeind‹, obwohl man selbst nie so gefühlt. Sollte man sich unfreundlich abweisen lassen, an den alten Freunden vorbeigehen müssen, um sie nicht in eine peinliche Lage zu bringen? Nun, ich wagte es und fuhr eines Mittags über die Grenze.
    Abends kam ich in Verona an und ging in ein Hotel. Man reichte mir den Meldezettel, ich trug mich ein; der Portier überlas das Blatt und staunte, als er unter der Rubrik Nationalität das Wort ›Austriaco‹ las. »Lei è Austriaco?« fragte er. Wird er mir jetzt die Tür weisen, dachte ich. Aber als ich bejahte, jubelte er beinahe. »Ah, che piacere! Finalmente!« Das war der erste Gruß und eine neuerliche Bestätigung des schon im Krieg empfundenen Gefühls, daß die ganze Haßpropaganda und Verhetzung nur ein kurzes intellektuelles Fieber erzeugt, im Grunde aber nie die wirklichen Massen Europas berührt hatte. Eine Viertelstunde später kam dieser wackere Portier eigens noch in mein Zimmer, um nachzusehen, ob für mich alles gut besorgt sei. Er lobte begeistert mein Italienisch, und wir schieden mit herzlichem Händedruck.
    Am nächsten Tage war ich in Mailand; ich sah wieder den Dom, schlenderte durch die Galleria. Es war wohltuend, die geliebte vokalische Musik des Italienischen zu hören, sich so sicher in allen Straßen zurechtzufinden und die Fremdheit als etwas Vertrautes zu genießen. Im Vorübergehen sah ich bei einem der großen Gebäude die Aufschrift ›Corriere della Sera‹. Plötzlich fiel mir ein, daß hier in der Redaktion mein alter Freund G. A. Borgese in führender Stellung sei, Borgese, in dessen Gesellschaft ich – zusammen mit Graf Keyserling und Benno Geiger – in Berlin und Wien manchen geistig beschwingten Abend verbracht. Einer der besten und leidenschaftlichsten Schriftsteller Italiens und von außerordentlichem Einfluß auf die Jugend, hatte er, obwohl Übersetzer von ›Werthers Leiden‹ und Fanatiker der

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