Lemberger Leiche
Prolog
Ende Juni 2010
Auf Straßen und Dächern tanzten Sonnenstäubchen. Stuttgart übte heiß und windstill den Hochsommer. Er war unversehens über Stadt und Land hereingebrochen wie ein Wunder, auf das man lange gewartet hatte. Die Sonne streichelte die Weinberge mit Lichtfingern und frohlockte, das nasskalte Frühjahr noch rechtzeitig zum Weinblütenfest ausgetrickst zu haben. Dieses traditionelle Fest, eine Freilandvariante von Ulmers Besenwirtschaft, wurde auf dem Lemberg über Feuerbach gefeiert.
Bereits seit Mittag waren alle Plätze unter dem Pagodenzelt auf der Weinbergterrasse besetzt. Die gut gelaunte Gesellschaft schlotzte Trollinger, Lemberger oder Riesling und vesperte dazu Bodenständiges aus der Besenküche. Wer zwischen diesen Genüssen kurzzeitig den Kopf hob, konnte die Aussicht über Stuttgarts Täler und Höhen bewundern.
Doch an diesem Sonntagnachmittag warf kaum jemand einen Blick auf das zauberhafte Panorama. Die meisten Gäste starrten in die Weinlaube, die zu einer WM-Lounge mit Großbildschirm umfunktioniert worden war. Die Unterhaltungen drehten sich um die Weltmeisterschaft im fernen Südafrika und vereinten die Gäste zu Fußballfans.
Achtelfinale: Deutschland gegen England. Bei jedem Treffer ins englische Tor zitterten die Reben unter kollektivem Jubelgeschrei, und der Lemberg schien einem Erdrutsch nahe. Er stabilisierte sich erst wieder nach dem einzigen Gegentreffer. An dieser Stelle verebbte die Ekstase in Betroffenheit, um alsbald wieder auf Touren zu kommen.
Die weltmeisterliche Beschallung aus Lautsprechern wurde von Anfeuerungsrufen der Festgäste überschrien. Das alles machte durstig.
Während man dem Ende des Fußballspiels entgegenfieberte, ahnte niemand, dass zwischen Müllers drittem und viertem Tor unten im Tal in Feuerbachs Zentrum ein Verbrechen begangen wurde. Der Zeitpunkt war gut gewählt, denn Feuerbach glich wie ganz Stuttgart einer Geisterstadt. Auf den Straßen flimmerte die Hitze. 35 Grad im Schatten waren kein Spaß. Die Bevölkerung hatte sich in die Häuser vor die Fernseher verzogen. Der Chor der Vuvuzelas verschluckte jedes andere Geräusch.
Die Täter hatten leichtes Spiel.
Eins
Sonntag, 27. Juni
Helene Ranberg hatte die junge Kripokommissarin Irma Eichhorn zu einem Besuch des Weinblütenfestes eingeladen. Seit Irma den Giftmord an Rolf, Frau Ranbergs einzigem Sohn, aufgeklärt hatte, waren die beiden Frauen befreundet.
Sie hatten nicht damit gerechnet, dass hier oben auf dem Lemberg das Achtelfinale der Weltmeisterschaft übertragen wurde.
Außer halbherzig auf die aufgeregte Stimme des Moderators zu hören, waren Irma und Helene damit beschäftigt, die Aussicht zu bestaunen: Stuttgart badete in der sich neigenden Sonne und atmete die Hitze des Tages aus. Die Welt, die dem Weinberg zu Füßen lag, glich einem verwischten Aquarellgemälde.
Helene war Stuttgarterin und nicht zum ersten Mal hier oben auf dem Lemberg. Zwischen großen Schlucken aus ihrem Viertelesglas mit Trollinger und kleinen genießerischen Bissen von ihrer Bratwurst schrie sie gegen die Lautsprecher an und erklärte Irma, die eine »Reingeschmeckte« war, die Gegend. Helene zeigte mit allumfassenden Gesten auf das malerische Panorama, als wäre es ihr persönliches Fürstentum.
»Direkt unter uns liegt Feuerbach!«, schrie sie. »Und da hinten sieht man Weilimdorf und Wolfbusch. Ist das nicht hübsch, wie sich die Häuser ins Grün kuscheln?«
»Leider ein bisschen verschwommen«, entgegnete Irma. »Die Hitze schwappt durch die Täler wie …?«
»Brodelnde Erbsensuppe«, half die poetisch veranlagte Helene nach. »Jedenfalls geht hier oben ein Lüftchen. Wir sitzen 380 Meter über dem Meeresspiegel.«
»Was du nicht sagst«, staunte Irma. »So hoch und trotzdem wie im Backofen!«
»Du hast bisher immer behauptet, Stuttgart sei dir schon deswegen sympathisch, weil es hier nicht so windig und kalt ist wie in Schleswig-Holstein. Also beklag dich nicht!«
Irma beugte sich vor, krempelte ihre Jeans bis über die Knie und kam mit einem Seufzer wieder in die Senkrechte. »Statt des heißen Lüftchens wäre mir heute eine steife Nordseebrise lieber!« Sie griff ihr tief ausgeschnittenes weißes T-Shirt an den Schulternähten und wedelte damit rauf und runter. Als sie eine Weile gewedelt hatte, warf sie ihre Haarmähne, die die Farbe und die Struktur eines Eichhörnchenschwanzes hatte, in den Nacken und bändigte sie mit einem Gummiband. Danach stützte sie die Ellenbogen auf
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