Bußestunde
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Wenn es eine Tagesentsprechung zur Geisterstunde gibt, der Stunde nach Mitternacht, in der die Geister ihr Unwesen treiben, oder zur Stunde des Wolfes, der Stunde vor der Morgendämmerung, in der die meisten Menschen sterben, dann muss diese Stunde auf einen Sonntag fallen. Wahrscheinlich einen Sonntagnachmittag. Es ist eine Stunde, in der alles stillsteht. Vielleicht die, in der eine Woche stirbt und eine neue geboren wird.
Die Zeit häutet sich ganz einfach.
Es ist eine sensible Stunde, eine Stunde der Nachdenklichkeit. Es ist eine Stunde tiefen Friedens, zugleich aber auch eine Stunde, in der es der Angst leichtfällt, sich einzuschleichen und Fuß zu fassen. Dinge, die in dieser Stunde geschehen, erscheinen in einem besonderen Licht. Nennen wir sie die Stunde des Umbruchs.
Wenn außerdem der Herbst vor der Tür steht und der Sommer sich anschickt zu sterben, dann kommt es einem so vor, als ob ein ganzes kleines Land hoch oben im Norden jenes Erdballs, der vollkommen führungslos am Rande des unendlichen Universums umhertaumelt, gleichsam erzitterte. Wenn man etwas näher herantritt, sieht man tatsächlich, dass das Land zittert, man kann den Frieden erkennen und die Angst.
Das kleine Land ist – wie alle anderen Länder – keinem anderen gleich. Das Besondere an gerade diesem kleinen Land ist jedoch, dass es bald dazu bestimmt ist, das demokratischste Land des kleinen Erdballs zu sein. Aber nur sehr wenige in dem kleinen Land werden das merken. Oder sich etwas daraus machen.
Wenn man dann der größten Stadt des kleinen, kleinen Landes auf dem kleinen, kleinen Erdball richtig nahe kommt, sieht man eine Anzahl Menschen über die Stadt verstreut. Sie sind natürlich nicht allein, auch wenn – verglichen mit dem Rest des kleinen Erdballs – nicht besonders viele Menschen in der Stadt leben. Aber beeindruckend viele von ihnen halten sich gerade im Freien auf. Vermutlich glauben sie, die letzten Strahlen der Sommersonne zu genießen. Eigentlich geht die Stunde des Umbruchs geradewegs durch sie hindurch, gibt ihnen das Gefühl, auf eine besondere Weise teilzuhaben an dieser Mischung aus Frieden und Angst, die vielleicht das bekannteste Merkmal des Landes ist.
Denn jetzt wird es Herbst in Schweden.
Es ist kurz nach drei Uhr nachmittags an diesem Sonntag, dem 27. August, und das, was unsere kleine Gruppe auszeichnet, sieht man nicht von außen, es liegt in ihren Taschen.
Sie sind Mitglieder der Sondereinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei. Und abgesehen davon, dass keiner von ihnen im Moment im Geringsten an Gewaltverbrechen von internationalem Charakter denkt, ist auch nichts Besonderes an ihnen. Dennoch richten wir unseren Blick auf sie.
Wir sehen ein Paar, dem das Kunststück gelungen ist, seinen Kinderwagen in den Schatten zu schieben, während die beiden selbst sich in der Sonne rekeln, deren Wirkung sich durch die Spiegelung im Wasser des Riddarfjärden fast zu verdoppeln scheint. Der Wagen steht allerdings viel zu nah am Nachbartisch, halb unter einem der Segeltücher, und ist eigentlich zu klein für die inzwischen vierjährige Tochter, die schläft, wobei ihre Füße auf eine für den Unerfahrenen beunruhigende Weise aus ihm hervorragen.
Wer hätte ahnen können, dass sie so groß werden würde? Jedenfalls nicht der Vater, der selbst gezwungen gewesen war, sich wegen seiner geringen Körpergröße in die Polizeihochschule hineinzuschummeln. Möglicherweise die Mutter, die zwar nur zehn Zentimeter größer ist als ihr Mann, aber immerhin einige Großgewachsene in der Familie vorweisen kann. Sie weiß besser als er, dass die Gene unberechenbar sind – und eventuelle Zweifel, was seine Vaterschaft angeht, werden zum Glück durch das auffallend südamerikanische Aussehen der Tochter entkräftet. Und, denkt die Mutter, während sie sich von Neuem über die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit ihrer eigenen Gene wundert, wahrscheinlich auch durch dieses .
Und damit lässt sie die Finger über die seit sechs Monaten wachsende Rundung ihres Bauches streichen. Jedes Mal, wenn sie das tut, gehen ihr so viele Gedanken, so viele Gefühle durch den Kopf. All die Risiken, die die Elternschaft mit sich bringt, all die Möglichkeiten, all die – Arbeit. All die Zeit. All die Kraft.
Isabel ist vier Jahre alt, und diese vier Jahre, die ihre Kinder voneinander trennen werden, sind wahrlich kein Zuckerschlecken gewesen. Obwohl es so schlimm nun auch wieder nicht
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