Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
Vom Netzwerk:
politisch unbeteiligt und ihm persönlich seit Jahren freundschaftlich verbunden war. Es wurde ein langes Gespräch, und ich kann bezeugen, daß Rathenau, der persönlich von Eitelkeit keineswegs frei war, durchaus nicht leichten Herzens und noch weniger gierig und ungeduldig die Stellung eines deutschen Außenministers übernommen hatte. Er wußte im voraus, daß die Aufgabe vorläufig noch eine unlösbare war und daß er im besten Falle einen Viertelerfolg zurückbringen konnte, ein paar belanglose Konzessionen, daß aber ein wirklicher Frieden, ein generöses Entgegenkommen, noch nicht zu erhoffen war. »In zehn Jahren vielleicht«, sagte er mir, »vorausgesetzt, daß es allen schlecht geht und nicht nur uns allein. Erst muß die alte Generation aus der Diplomatie weggeräumt sein und die Generäle nur noch als stumme Denkmäler auf den öffentlichen Plätzen herumstehen.« Er war sich vollkommen bewußt der doppelten Verantwortlichkeit durch die Belastung, daß er Jude war. Selten in der Geschichte vielleicht ist ein Mann mit so viel Skepsis und so voll innerer Bedenken an eine Aufgabe herangetreten, von der er wußte, daß nicht er, sondern nur die Zeit sie lösen könnte, und er kannte ihre persönliche Gefahr. Seit der Ermordung Erzbergers, der die unangenehme Pflicht des Waf
fenstillstands übernommen, vor der sich Ludendorff vorsichtig ins Ausland gedrückt, durfte er nicht zweifeln, daß auch ihn als Vorkämpfer der Verständigung ein ähnliches Schicksal erwartete. Aber unverheiratet, kinderlos und im Grunde tief vereinsamt, wie er war, meinte er die Gefahr nicht scheuen zu müssen; auch ich hatte nicht den Mut, ihn zu persönlicher Vorsicht zu mahnen. Daß Rathenau seine Sache in Rapallo so ausgezeichnet gemacht hat, wie es unter den herrschenden Umständen damals möglich war, ist heute ein historisches Faktum. Seine blendende Begabung, rasch jeden günstigen Augenblick zu fassen, seine Weltmännischkeit und sein persönliches Prestige haben sich nie glänzender bewährt. Aber schon waren die Gruppen stark im Lande, die wußten, daß sie einzig Zulauf finden würden, wenn sie dem besiegten Volke immer wieder versicherten, daß es gar nicht besiegt und daß jedes Verhandeln und Nachgeben Verrat an der Nation sei. Schon waren die – stark homosexuell durchsetzten – Geheimbünde mächtiger, als die damaligen Leiter der Republik vermuteten, die in ihrer Vorstellung von Freiheit alle gewähren ließen, welche die Freiheit in Deutschland für immer beseitigen wollten.
    In der Stadt nahm ich dann vor dem Ministerium von ihm Abschied, ohne zu ahnen, daß es der endgültige war. Und später erkannte ich auf den Photographien, daß die Straße, auf der wir gemeinsam gefahren, dieselbe war, wo kurz darauf die Mörder dem gleichen Auto aufgelauert: eigentlich war es nur Zufall, daß ich nicht Zeuge dieser historisch verhängnisvollen Szene gewesen. So konnte ich noch bewegter und sinnlich eindrucksvoller die tragische Episode nachfühlen, mit der das Unglück Deutschlands, das Unglück Europas begann.
    Ich war an diesem Tage schon in Westerland, Hunderte und Aberhunderte Kurgäste badeten heiter am Strand. Wieder spielte eine Musikkapelle wie an jenem Tage, da Franz Ferdinands
Ermordung gemeldet wurde, vor sorglos sommerlichen Menschen, als wie weiße Sturmvögel die Zeitungsausträger über die Promenade stürmten: »Walther Rathenau ermordet!« Eine Panik brach aus, und sie erschütterte das ganze Reich. Mit einem Ruck stürzte die Mark, und es gab kein Halten mehr, ehe nicht die phantastischen Irrsinnszahlen von Billionen erreicht waren. Nun erst begann der wahre Hexensabbat von Inflation, gegen den unsere österreichische mit ihrer doch schon absurden Relation von 1 zu 15 000 nur ein armseliges Kinderspiel gewesen. Sie zu erzählen mit ihren Einzelheiten, ihren Unglaublichkeiten würde ein Buch fordern, und dieses Buch würde auf die Menschen von heute wie ein Märchen wirken. Ich habe Tage erlebt, wo ich morgens fünfzigtausend Mark für eine Zeitung zahlen mußte und abends hunderttausend; wer ausländisches Geld wechseln mußte, verteilte die Einwechslung auf Stunden, denn um vier Uhr bekam er das Mehrfache von dem, was er um drei, und um fünf Uhr wieder das Mehrfache von dem, was er sechzig Minuten vorher bekommen hätte. Ich sandte zum Beispiel meinem Verleger ein Manuskript, an dem ich ein Jahr gearbeitet hatte, und meinte mich zu sichern, indem ich sofortige Vorausbezahlung für zehntausend Exemplare

Weitere Kostenlose Bücher