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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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unfaßbaren Schöpfungsprozesses gewähren kann, sind die handschriftlichen Blätter und insbesondere die noch nicht für den Druck bestimmten, die mit Korrekturen übersäten, noch ungewissen ersten Entwürfe, aus denen sich dann erst allmählich die künftige gültige Form kristallisiert. Solche Blätter von allen großen Dichtern, Philosophen und Musikern, solche Korrekturen und somit Zeugen ihres Arbeitskampfes zu vereinigen, war die zweite, wissendere Epoche meines Autographensammelns. Es war für mich eine Lust, sie zusammenzujagen auf Auktionen, eine gern getane Mühe, sie aufzuspüren an den verstecktesten Stellen, und zugleich eine Art Wissenschaft, denn allgemach war neben meiner Sammlung von Autographen eine zweite entstanden, die sämtliche Bücher, die je über Autographen geschrieben worden sind, umfaßte, sämtliche Kataloge, die je gedruckt worden sind, über viertausend an der Zahl, eine Handbibliothek ohnegleichen und ohne einen einzigen Rivalen, weil selbst die Händler nicht so viel Zeit und Liebe an ein Spezialfach wenden konnten. Ich darf wohl sagen – was ich nie im Hinblick auf Literatur oder ein anderes Gebiet des Lebens auszusprechen wagen würde –, daß ich in diesen dreißig oder vierzig Jahren des Sammelns eine erste Autorität auf dem Gebiete der Handschriften geworden war und von jedem bedeutenden Blatte wußte, wo es lag, wem es gehörte und wie es zu seinem Besitzer gewandert war,
ein wirklicher Kenner also, der Echtheit auf den ersten Blick bestimmen konnte und in der Bewertung erfahrener als die meisten Professionellen war.
    Aber allmählich ging mein sammlerischer Ehrgeiz weiter. Es genügte mir nicht, eine bloße handschriftliche Galerie der Weltliteratur und Musik, einen Spiegel der tausend Arten schöpferischer Methoden zu haben; die bloße Erweiterung der Sammlung lockte mich nicht mehr, sondern was ich in den letzten zehn Jahren meines Sammelns vornahm, war eine ständige Veredelung. Hatte es mir zuerst genügt, von einem Dichter oder Musiker Blätter zu haben, die ihn in einem schöpferischen Momente zeigten, so ging allmählich mein Bemühen dahin, jeden darzustellen in seinem allerglücklichsten schöpferischen Moment, in dem seines höchsten Gelingens. Ich suchte also von einem Dichter nicht nur die Handschrift eines seiner Gedichte, sondern eines seiner schönsten Gedichte und womöglich eines jener Gedichte, das von der Minute an, da die Inspiration in Tinte oder Bleistift zum erstenmal irdischen Niederschlag fand, in alle Ewigkeit reicht. Ich wollte von den Unsterblichen – verwegene Anmaßung! – in der Reliquie ihrer Handschrift gerade das, was sie für die Welt unsterblich gemacht hat.
    So war die Sammlung eigentlich in ständigem Fluß; jedes für diesen höchsten Anspruch mindere Blatt, das ich besaß, wurde ausgeschaltet, verkauft oder eingetauscht, sobald es mir gelang, ein wesentlicheres, ein charakteristischeres, ein – wenn ich so sagen darf – ewigkeitshaltigeres zu finden. Und wunderbarerweise gelang es in vielen Fällen, denn es gab außer mir nur ganz wenige, die mit solcher Kenntnis, solcher Zähigkeit und gleichzeitig mit einem solchen Wissen die wesentlichen Stücke sammelten. So vereinigte schließlich erst eine Mappe und dann ein ganzer Kasten, durch Metall und Asbest der Verderbnis
wehrend, Urhandschriften von Werken oder aus Werken, die zu den dauerhaftesten Manifesten der schöpferischen Menschheit gehören. Ich habe hier, nomadisch wie ich heute zu leben gezwungen bin, den Katalog jener längst zerstreuten Sammlung nicht zur Hand und kann nur aufs Geratewohl einige der Dinge aufzählen, in denen der irdische Genius in einem Ewigkeitsmoment verkörpert war.
    Da war ein Blatt aus Lionardos Arbeitsbuch, Bemerkungen in Spiegelschrift zu Zeichnungen; von Napoleon in kaum leserlicher Schrift auf vier Seiten hingejagt der Armeebefehl an seine Soldaten bei Rivoli; da war ein ganzer Roman in Druckbogen von Balzac, jedes Blatt ein Schlachtfeld mit tausend Korrekturen und mit unbeschreiblicher Deutlichkeit seinen Titanenkampf darstellend von Korrektur zu Korrektur (eine Photokopie ist glücklicherweise für eine amerikanische Universität gerettet). Da war Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ in einer ersten, unbekannten Fassung, die er lange vor der Veröffentlichung für die geliebte Cosima Wagner geschrieben, eine Kantate von Bach und die Arie der Alceste von Gluck und eine von Händel, dessen Musikmanuskripte die seltensten von allen sind. Immer

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