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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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in diesem Jahrzehnt der künstlerische Pilgerort Europas.
    So lebte ich mit einemmal in der eigenen Stadt inmitten von Europa. Wieder hatte das Schicksal mir einen Wunsch erfüllt,
den ich selbst kaum auszudenken gewagt, und unser Haus auf dem Kapuzinerberg wurde ein europäisches Haus. Wer ist dort nicht zu Gast gewesen? Unser Gästebuch könnte es besser bezeugen als die bloße Erinnerung, aber auch dies Buch ist mit dem Haus und vielem anderen den Nationalsozialisten verblieben. Mit wem haben wir dort nicht herzliche Stunden verbracht, von der Terrasse hinausblickend in die schöne und friedliche Landschaft, ohne zu ahnen, daß gerade gegenüber auf dem Berchtesgadener Berg der eine Mann saß, der all dies zerstören sollte? Romain Rolland hat bei uns gewohnt und Thomas Mann, von den Schriftstellern sind H. G. Wells, Hofmannsthal, Jakob Wassermann, van Loon, James Joyce, Emil Ludwig, Franz Werfel, Georg Brandes, Paul Valéry, Jane Adams, Schalom Asch, Arthur Schnitzler freundschaftlich empfangene Gäste gewesen, von den Musikern Ravel und Richard Strauss, Alban Berg, Bruno Walter, Bartók und wer noch alles von den Malern, den Schauspielern, den Gelehrten aus allen Winden? Wie viele gute und helle Stunden geistigen Gesprächs wehte jeder Sommer uns zu! Eines Tages klomm Arturo Toscanini die steilen Stufen empor, und mit der gleichen Stunde begann eine Freundschaft, die mich Musik noch mehr, noch wissender lieben und genießen ließ als je zuvor. Ich war jahrelang dann getreuester Gast bei seinen Proben und erlebte den leidenschaftlichen Kampf immer wieder, mit dem er jene Vollendung erzwingt, die dann in den öffentlichen Konzerten gleichzeitig als Wunder und Selbstverständlichkeit erscheint (ich versuchte einmal in einem Aufsatz diese Proben zu schildern, die jedem Künstler den vorbildlichsten Antrieb darstellen, nicht abzulassen bis zur letzten Fehllosigkeit). Herrlich ward mir Shakespeares Wort bestätigt, daß ›Musik der Seele Nahrung‹ ist, und dem Wettstreit der Künste zublickend, segnete ich das Geschick, das mir gegeben, ihnen dauernd verbunden zu wirken.
Wie reich, wie farbig waren diese Sommertage, da Kunst und gesegnete Landschaft sich gegenseitig steigerten! Und immer, wenn ich mich rückschauend an das Städtchen erinnerte, verfallen, grau, bedrückt wie es unmittelbar nach dem Kriege gewesen, an unser eigenes Haus, darin wir frierend den durch das Dach einbrechenden Regen bekämpft, spürte ich erst, was diese benedeiten Jahre des Friedens für mein Leben getan. Es war wieder erlaubt, an die Welt, an die Menschheit zu glauben.

    Es kamen viele erwünschte berühmte Gäste in unser Haus in jenen Jahren, aber auch in den Stunden des Alleinseins sammelte sich um mich ein magischer Kreis erhabener Gestalten, deren Schatten und Spur zu beschwören mir allmählich gelungen war: in meiner schon erwähnten Sammlung von Autographen hatten sich die größten Meister aller Zeiten in ihrer Handschrift zusammengefunden. Was ich als Fünfzehnjähriger dilettantisch begonnen, hatte sich in all diesen Jahren dank vieler Erfahrung, reichlicherer Mittel und eher noch gesteigerter Leidenschaft aus einem bloßen Nebeneinander in ein organisches Gebilde und, ich darf es wohl sagen, in ein wirkliches Kunstwerk verwandelt. In den Anfängen hatte ich wie jeder Anfänger nur getrachtet, Namen zusammenzuraffen, berühmte Namen; dann hatte ich aus psychologischer Neugier nur mehr Manuskripte gesammelt – Urschriften oder Fragmente von Werken, die mir zugleich Einblick in die Schaffensweise eines geliebten Meisters gewährten. Von den unzähligen unlösbaren Rätseln der Welt bleibt das tiefste und geheimnisvollste doch das Geheimnis der Schöpfung. Hier läßt sich die Natur nicht belauschen, niemals wird sie diesen letzten Kunstgriff sich absehen lassen, wie die Erde entstand und wie eine kleine Blume entsteht, wie ein Gedicht und wie ein Mensch. Hier zieht sie unbarmherzig und unnachgiebig ihren Schleier vor.
Selbst der Dichter, selbst der Musiker wird nachträglich den Augenblick seiner Inspiration nicht mehr erläutern können. Ist einmal die Schöpfung vollendet gestaltet, so weiß der Künstler von ihrem Ursprung nicht mehr und nicht von ihrem Wachsen und Werden. Nie oder fast nie vermag er zu erklären, wie in seinen erhobenen Sinnen die Worte sich zu einer Strophe, wie aus einzelnen Tönen Melodien sich zusammenfügten, die dann durch die Jahrhunderte klingen. Das einzige, was eine leise Ahnung dieses

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