Leichensee
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Alles begann damit, dass Spaziergänger Leichenteile am Strand von Chappaquiddick fanden. Die Insel liegt etwa hundertfünfzig Meilen nordöstlich von New York, ist sechs Quadratmeilen klein und von weniger als zweihundert Seelen bewohnt. Zwei Fähren und eine Brücke verbinden das Eiland mit der wenige hundert Yards entfernten Nachbarinsel Martha’s Vineyard.
Vielleicht wäre es nie zu dem grausigen Fund gekommen, hätten einige Touristen nicht das Verbotsschild ignoriert, das das Betreten des betroffenen Strandabschnitts untersagte. Auch hatten die außergewöhnlich heftigen Herbstürme der vergangenen Wochen ihren Teil zu der Entdeckung beigetragen, denn Wind und Wasser hatten die im Sand verscharrten Leichenteile freigelegt.
Daraufhin nahm die zuständige Polizeibehörde von Dukes County die Ermittlungen auf. Zunächst ging man von nur einem Todesopfer aus, das dem Grad der Verwesung nach schon mehrere Jahre unter dem Sand gelegen haben musste. Nachdem im Umkreis von zwanzig Fuß weitere Knochen von mindestens einem halben Dutzend Menschen gefunden wurden, nahm der Fall eine weitaus größere Dimension an, als den Ermittlern lieb war. In den nächsten vier Tagen spürte man noch elf verscharrte Körper auf. Die Fundorte der Schädel und Gebeine lagen manchmal kaum mehr als vier Fuß auseinander.
Und ein Ende der Suche war nicht in Sicht.
*
»Mein Gott, Cotton«, erschrak Special Agent Philippa »Phil« Decker beim Anblick des G-Man. »Was ist denn mit Ihnen passiert? Sie sehen aus, als wären Sie in einen Schredder gefallen.«
»So fühle ich mich auch«, stöhnte Cotton, während er seine Reisetasche in den Kofferraum des FBI-Dienstwagens wuchtete und die Heckklappe schloss. Das Klackgeräusch löste in seinem Gehirn eine Eruption aus. Vorsichtig, wie auf rohen Eiern, bewegte er sich zur Beifahrertür. Mit viel Fingerspitzengefühl gelang es ihm, die Tür beinahe lautlos zu öffnen. Verkatert bis in die Haarspitzen taumelte er auf den Beifahrersitz.
Während Cotton lässig mit Shirt, Jeans und Lederjacke bekleidet war, hatte Decker ihre schlanke Figur in einen dunklen, eleganten Hosenanzug gehüllt.
Cotton litt unter den Nachwehen eines Undercover-Einsatzes vom vergangenen Abend. Bei einem Treffen mit aserbaidschanischen Terroristen war der Wodka in Strömen geflossen. Es hatte Stunden gedauert, bis er genug Beweismaterial aufgezeichnet hatte, um den in Position lauernden FBI-Agents das Zeichen zum Zugriff zu geben.
»Sie machen sich ja keine Vorstellung, welche Mengen an hochprozentigem Alkohol manche Menschen konsumieren können«, stöhnte er, während er die Tür möglichst leise zuzog und sich dann ungelenk anschnallte. »Damit meine Tarnung als russischer Waffendealer nicht aufflog, musste ich bei einer White-Russian-Orgie mitmachen.«
Decker zog die Stirn vielsagend in Falten, bevor sie einen Gang einlegte, Gas gab und das HQ des G-Teams hinter sich ließ. Die Fenster des Fahrzeugs waren dunkel getönt, um das Sonnenlicht abzumildern. Trotzdem löste es hämmernde Schmerzen im Kopf des Beifahrers aus, sobald der einen Blick nach draußen warf. Er nestelte eine Sonnenbrille aus seiner Brusttasche und setzte sie auf.
Cotton atmete erleichtert durch, als New York endlich hinter ihnen lag. Der Verkehr hatte sich im Schneckentempo durch die Straßen gequält. Von nun an ging es zügig Richtung Norden nach Massachusetts. Zwei Monate früher, und sie wären dort in den Genuss des Indian Summers gekommen, wenn die Laubwälder Neuenglands in einem feurigem Farbenrausch schwelgen.
Cotton legte den Kopf in den Nacken und hielt die Augen hinter der Sonnenbrille geschlossen.
»Wären Sie bitte so freundlich, mich nochmals über unsere Mission ins Bild zu setzen, Philippa?«, sagte er irgendwann. »Nach dem Blackout von gestern leidet mein Gedächtnis unter erschreckenden Lücken.«
»Sagt Ihnen Martha’s Vineyard etwas?«
»Sicher. Auf der Insel verbringt der halbe Ostküstenadel von Washington bis Boston seinen Urlaub oder Lebensabend. Und was genau sollen wir da machen?«
»Dem Hilfegesuch der örtlichen Behörden an das FBI nachkommen. Es geht um mysteriöse Leichenfunde. Genaueres erfahren wir vor Ort. Präzise gesagt, nicht auf Martha’s Vineyard, sondern auf der kleineren Nachbarinsel Chappaquiddick. Deren Bewohner sind etwas einfacher gestrickt und gelten auch als verschlossener.«
»Also wohnen da keine Promis?«
»Abgesehen von ein paar Schauspielern sind das alles Alteingesessene. Zwar
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